Tagebücher

XLI

 

15. April – 3. August 1924

 

 

 

Niederschönenfeld, Dienstag, d. 15. April 1924 abends.

Arco ist begnadigt! – Jetzt ist kein Zweifel mehr: die Freiheit steht vor den Gittern Niederschönenfelds. Ich fange an einzupacken.

 

Niederschönenfeld, Mittwoch, d. 16. April 1924

Heute sieht sich die Sensation Arco schon ruhiger an. Ehe ich darüber orakele, will ich in der Reihenfolge der persönlichen Erlebnisse Hausangelegenheiten festhalten. Ich erreichte durch einen Appell bei Herrn Fetsch, daß ich statt auf den Seitengang auf die Nordseite des Hauptganges ziehn konnte, die zwar keine Sonne hat und wo ich unmittelbar neben dem Lokus wohnen muß, aber der Umzug selbst war erheblich erleichtert, und vor allem konnte ich den großen Tisch behalten, an den ich gewöhnt bin, und der in den kleinen Seitengangszellen keinen Platz hat. Dieser Umzug wäre also überstanden. Doch hieß es gleich, sobald das obere Stockwerk frei ist, werden wir wieder hinaufverlegt. Wir können also, da die Schutzhaft doch nicht mehr sehr lange aufrecht zu halten sein wird, jeden Tag mit einer noch viel umständlicheren Zieherei rechnen, – es sei denn, daß wir zugleich mit den Genossen oben frei werden. Davon nachher. Gestern hatte ich Besuch. Meine Schwägerin Minna Mühsam war hier, auf der Durchreise von Italien nach Hause. Da sie am Montag keinen Anschluß von Ingolstadt aus mehr fand, telefonierte sie an die Verwaltung, die denn auch 2 Stunden trotz des Nichtbesuchstags bewilligte. Oder ist die Besuchsbeschränkung auf 3 Wochentage überhaupt aufgrund der neuen Hausordnung abgeschafft? Wir wissen noch garnicht, wie wir damit daran sind. Jedenfalls erhielt ich bei Gelegenheit des Besuchs zum ersten Mal die offizielle Mitteilung, daß eine neue Hausordnung gestern (also erst am 15ten) in Kraft getreten sei. Ich sollte nämlich von Minna eine Flasche Schnaps kriegen, und es wurde mir erklärt, daß die Hausordnung das nicht mehr zulasse, sodaß sie die gute Gabe wieder mitnehmen mußte. Dafür blieb jedoch eine der ekelhaftesten Widerwärtigkeiten diesmal weg, die sonst bei Besuchen vor- und nachher üblich war: die Abstreifung – trotz der scharfen Überwachung, die selbst ganz in der gewöhnten Form stattfand, allerdings ohne Unterbrechung durch den beaufsichtigenden Beamten, dem meine Schwägerin freilich auch sonst nicht den geringsten Anlaß dazu geboten hätte. Sie hat von der Politik nicht die mindeste Ahnung, für mein spezielles Wollen kein leisestes Verständnis, und die Unterhaltung drehte sich im Familienkreise um privateste Gleichgültigkeiten. Mir war das Wiedersehn mit Minna, die ich 1916 zuletzt gesehn hatte, nur eine eindringliche Mahnung ans Altwerden. Wenn man ein hübsches junges Mädchen gekannt hat, sie dann als junge lebhafte Frau ihren Hausstand führen sah, und dann tritt sie einem mit über 40 Jahren und starken Anzeichen des Verfalls aller Reize wieder entgegen, dann besinnt man sich auf die eignen verlorenen Jahre, – besonders wenn man sie so durch Diebstahl verloren hat wie ich. Während mich solche Empfindungen bewegten, als ich nach dem Besuch wieder in meiner kahlen Bude saß – ich habe den Bildschmuck nicht mehr angebracht, weil ich mit keiner langen Dauer in der augenblicklich bevölkerten Zelle rechne (Herr Fetsch konnte sie mir in eigner Verantwortung nur mit Vorbehalt geben; falls der Vorstand den Tausch nicht genehmige, müsse ich gleich wieder zusammenpacken und noch einmal wechseln; es scheint jetzt aber kein derartiger Schrecken mehr zu kommen) – kam der Miesbacher Anzeiger, als einziges bürgerliches Blatt. Denn in München ist Buchdruckerstreik, sodaß wir seit Anfang der Woche die große Presse nicht bekommen. Da stand denn nun in größtem Druck verkündet, daß Graf Arco begnadigt und bereits freigelassen sei. Ich habe hier schon viele große Aufregungen miterlebt, aber außer dem Tode August Hagemeisters hat noch nie etwas derartig eingeschlagen wie diese Nachricht, die für uns alle die Sicherheit dafür bedeutete, daß neulich die Vorwärtsnachricht, daß die bayerische Regierung eine Amnestie vorbereite, zutrifft. Ich will nicht alle mehr oder weniger verwegenen Kombinationen, die sich äußerten, wiederholen, aber meine eigne nach der heute in der Münchner Post mitgeteilten eigentlichen Form der Begnadigung modifizierte Meinung zur künftigen Vergleichung mit den Ereignissen festhalten. Nach der amtlichen Meldung ist keine Begnadigung Arcos erfolgt, sondern er ist beurlaubt worden bei Inaussichtstellung einer Freilassung auf Bewährungsfrist. Etliche Genossen sind daraufhin von himmelhohem Jauchzen prompt wieder zur Todesbetrübnis übergegangen. Ich finde dazu garkeinen Anlaß. Nur in einer Hinsicht revidiere ich meinen Standpunkt von gestern abend. Da glaubte ich, die Amnestierung ohne Parlamentsbeschluß für Arco werde nun auch für uns auf Ministerialentschließung hin ohne Gesetz die Begnadigung in der Form bringen, daß die Strafe nur als verbüßt, nicht aber als gelöscht erachtet wird (sodaß die Verschuldung für Gerichts- und Haftkosten und die Akteneintragung bestehn bliebe), um so „das bewährte Prinzip der Einzelbegnadigungen“ auch in der summarischen Anwendung formal aufrecht zu halten und überdies nach Belieben einige sehr unbequeme Leute – die „Geiselmörder“, Leoprechting und Fuchs – ausnehmen und uns Festungsgefangene alle und Fechenbach, Lembke und Gargas sowie Lindner trotzdem herauslassen zu können. Einige Genossen meinten, Arco habe man vorweggenommen, um Lindner festhalten zu können. Das mag ich vorläufig denn doch noch nicht glauben. Immerhin ist die Freilassung des politischen Mörders, der ohnehin als Begnadigter von der Todesstrafe in Festung saß, nach 4½ Jahren von lebenslänglicher Verurteilung vor uns allen ein kräftiges Stück Ungeniertheit. Aber ich sehe auch heute noch in der „Beurlaubung“ den Einleitungsschritt der Amnestie, die aber als parlamentarisches Gesetz kommen wird, also frühestens Ende Mai, – jedoch, wie ich jetzt überzeugt bin, auch nicht viel später. Die Bayerische Volkspartei weiß natürlich, daß Arcos Entlassung gewaltiges Getöse in ganz Deutschland und darüber hinaus, besonders in den Ententeländern hervorrufen wird. Man wird darin, solange der Akt isoliert bleibt, eine von der bayerischen Regierung bekundete offizielle Sanktionierung der Ermordung Eisners erblicken. Nun haben die Herren durch den Hitler-Ludendorff-Prozeß eine ungeheure Schlappe erlitten, und jener Artikel des Staatsrats Meyer in der Juristenzeitung zeigte mit seiner Forderung, den „negativen Bilanzstrich“ zu ziehn, klar genug, wie bewußt man sich dieser Niederlage ist. Es kommt noch ein weiteres hinzu, was ich seit Wochen schon hier erörtern wollte, aber immer wieder hinausschob, bis jetzt diese scheinbar belanglose innerpolitische Wendung, die ich von Anfang an als ein außerordentlich folgenreiches Kriterium für die Beziehungen zwischen Bayern und Reich ansah, für uns persönlich Schicksalsbedeutung zu gewinnen scheint: das ist die Kriegserklärung der Zentrumspartei im Reich gegen die Bayerische Volkspartei. Es begann mit einem keineswegs aufregenden Wahlkandidatenkrakehl in der Pfalz (die Person Hofmann-Ludwigshafen im Mittelpunkt), aber schon dieser Krakehl war Symptom von Konflikten, die dann in einer Fanfare der „Germania“ Ausdruck fand: die Nachgiebigkeit gegen die Bayerische Volkspartei, die nur noch ein Anhängsel der Deutschnationalen sei, sei nicht mehr möglich. Bayern müsse sich unterordnen, dürfe keine Verfassungsbrüche mehr begehn, müsse die Reichsgesetze befolgen etc., – ändere es seine Haltung nicht, so müsse das Reich, und vor allem die Zentrumspartei eben mehr Charakter gegen Bayern zeigen und es zwingen, sich ins Ganze einzufügen. Gleich darauf folgte der Parteibeschluß, daß das Reichszentrum bei den Reichstagswahlen in Bayern mit eignen Kandidaten auftreten werde, was man bisher in dem Maße vermieden hatte, daß man den Christlich-Sozialen, die die Zentrumspolitik in Bayern bisher in eigner Regie durchsetzen wollten, ausdrücklich die Unterstützung verweigerte. Bei der Wahl am 4. Mai wird also die Riesenpartei des Zentrums mit ihren ungeheuren Mitteln und mit der ganzen Front gegen die Bayerische Volkspartei am Platze sein, und die Angst davor ist bei den Eigenartisten natürlich nicht gering. Was die Amnestiefrage betrifft, so ist bekanntlich das Reichszentrum seit langem für unsre Befreiung, hat aber bisher stets den Rückzieher vor der Bayerischen Volkspartei grade in dieser Frage gemacht. Zweifellos fürchten die Bayern nun, der nächste Antrag im Reichstag werde nun mit Hilfe des Zentrums angenommen werden, und unsre vom Reich erzwungene Amnestierung wäre eine neue ungeheure Prestigekatastrophe – und einen Konflikt aus diesem Grunde, bloß um seit 5 Jahren gepeinigte Politiker noch weiter peinigen zu können, wäre kaum zu riskieren, da der Eindruck in der ganzen Welt, und nicht zum Geringsten auch beim Vatikan, der die Bevorzugung der Kulturkampfleute um Hitler-Ludendorff nicht ruhig mitansehn würde, vernichtend wäre. Daher ist mir die Richtigkeit der „Vorwärts“-Meldung überhaupt nicht mehr zweifelhaft, zumal man nicht einmal ein Dementi dagegen erlassen hat. Ich glaube nun das: Man will eine Amnestie für alle politischen Straftaten mit Ausschluß derer haben, die sich Gewalttätigkeiten haben zu Schulden kommen lassen: dies, um die Genossen vom Luitpoldgymnasium behalten zu können. Da wegen der Person Arcos ein großer Streit entbrennen würde, hat man da ein fait accompli schaffen wollen, und den Kommunisten, die Lindners Begnadigung fordern werden, wird man die Konzession machen, daß der ebenfalls mit Bewährungsfrist freigelassen werden wird. Dem Landtag wird also die Amnestievorlage bei seinem Zusammentritt sofort zugehn, sie wird in einem Ausschuß ein wenig zurechtfrisiert werden (oder auch unter Ablehnung weitergehender Zusatzanträge bleiben wie sie kommt), und, bevor das Frühjahr in den Sommer marschiert ist, werden wir in die Welt marschieren. Ich fange an einzupacken, – d. h. ich werde von nächster Woche ab in ganz kurzen Abständen Pakete mit jedwedem entbehrlichen Zeug – Bücher, Briefe, Wäsche, Gelump – an Zenzl schicken. Wenn eines Tages ganz plötzlich zum Aufbruch geblasen wird, dann möchte ich nicht mehr zuviel Schererei mit Packen und Ballast haben, sondern den Rest meiner Festungshabe im Reisekorb verstaut auf die Bahn geben und mich mit meiner Aktentasche im Arm hineinsetzen. Ich bin bereit.

 

Niederschönenfeld, Sonnabend, d. 19. April 1924

Einige kurze Ergänzungen – zum Persönlichen. Da die Münchner Zeitungen immer noch bestreikt sind und die erscheinende Münchner Post wie alle übrigen auswärtigen Blätter fast nur Wahlpropaganda enthalten, kann die große Politik ohnehin mit der einzigen Konstatierung abgefertigt werden, daß sich die Reichsregierung entschlossen hat, die Anfrage der Reparationskommission, ob sie bereit sei auf der Grundlage des Sachverständigengutachtens zu verhandeln, bejahend zu beantworten, und daß die Micum-Verträge vorläufig für 2 Monate weiterhin in Kraft bleiben. Im Zusammenhang mit den eignen Hoffnungen folgendes: Emminger ist aus der Reichsregierung ausgetreten, – und zwar, wie allgemein bestätigt wird, als Opfer des Konflikts zwischen Zentrum und Bayerischer Volkspartei. Der Kriegszustand ist also in aller Form da, was für uns den Vorteil hat, daß die stärkste Reichstagspartei auf die Spezialwünsche unsrer Schinder nicht mehr einzugehn braucht. Falls also wirklich Bayern von sich aus keine Amnestie erläßt, so ist unsre Einbeziehung in die nächste Reichsamnestie gesichert. Und die kommt bald. Abgesehn von den Völkischen, die sie begehren werden, weil sie immerhin ein paar Leute in Gefängnissen sitzen oder im Ausland warten haben, sind von proletarischen Organisationen nicht weniger als zur Zeit 7000 politische Gefangene in Haft. Nach den Emmingerschen Verordnungen werden Prozesse gegen 50, 80 Personen zugleich tagtäglich durchgeführt und fallen unglaublich provozierend aus. Daher ist eine schleunige Amnestie garnicht zu umgehn, und bei der werden wir ganz sicher nicht übergangen, dazu ist Niederschönenfeld schon zu sehr Begriff und Anklage geworden. Dazu die Landesverratsprozesse, die in ungeheurer Zahl in Aussicht stehn – darunter gegen Lipinski, Zeigner (den man noch nicht tief genug in den Kot gestampft zu haben glaubt), gegen Frankfurter Zeitungs- und Vorwärts-Redakteure, – denn jede Mitteilung oder Erwähnung der ganzen Welt bekannter Tatsachen über Bewaffnung illegaler Formationen oder sonst unbequeme Dinge ist in dieser „Republik“ „Landesverrat“. Nun kommt die bayerische Rechtsprechung gegen die Völkischen dazu, die immer toller wird und allmählich das Bürgertum selbst zu ärgern beginnt: Herr Esser ist, obwohl er doch flüchtig war, auf freien Fuß gesetzt worden, und 2 Offiziere, die wegen des Hitlerputsches neu verhandelt wurden, bekamen ebenfalls 1¼ Jahr Festung und sofort Bewährungsfrist. Nun soll in der nächsten Woche gegen die 38 Angeklagten verhandelt werden, die der Demolierung der Münchner Post und der Verhaftung und Verschleppung der sozialistischen Stadtratsfraktionen beschuldigt werden. Da die Anklage schon nur auf Beihilfe zum Hochverrat lautet – früher und gegen links wurden solche Dinge stets als Landfriedensbruch behandelt, läßt sich ihre Straffreiheit leicht voraussehn. Aber heute ist wieder Aufregung bei uns. Der „Vorwärts“ berichtet, die bayerische Regierung wolle zu Ostern Fechenbachs Strafe bei Aussicht auf Bewährungsfrist in Festungshaft umändern und weitere Gesuche politischer Gefangener in „wohlwollende Erwägung“ ziehn. Ich finde in dieser Meldung keinen Anlaß, meine Kalkulationen zu revidieren. Es handelt sich um Osterhasen, wie sie immer üblich waren, – und ich will, wenn die Nachricht überhaupt stimmt, nur das eine wünschen, daß uns die Gesellschaft Fechenbachs nicht allzulange blühen möge. So leid mir der Mensch augenblicklich tut, Sympathien habe ich nicht für ihn, und seine Zellennachbarschaft wäre keine erfreuliche Bereicherung unsrer Haft. – Aber ich fürchte nicht mehr, daß neue Enttäuschungen weitere Jahre Qual kosten werden.

 

Niederschönenfeld, Ostermontag, d. 21. April 1924

Besuche, Störungen, Unterbrechungen aller Art, sodaß ich erst spät zum Schreiben komme. An Neuigkeiten folgendes: die bayerische Regierung hat das lang erwartete Dementi über die Amnestiegerüchte losgelassen. Unsre braven Neurhasteniker aller Richtungen sind daraufhin natürlich wie die Taschenmesser zusammengeklappt. Anders ich und noch einige: Ich hatte, als der „Vorwärts“ seine erste Meldung brachte, gesagt, wir müssen abwarten, wie die Regierung ihr Dementi faßt: sagt sie, es bestehe an keiner Stelle die Absicht, von dem bewährten Verfahren der Einzelbegnadigungen abzusehn, und eine Amnestie komme überhaupt nicht in Frage, zu allerletzt gegen die Räterepublikaner, dann wäre die Geschichte faul. Wenn es aber etwa heiße, die Frage einer Amnestie habe die Regierung überhaupt noch nicht beschäftigt, und die Gerüchte seien infolgedessen aus der Luft gegriffen, dann bedeute das nur, daß die Angelegenheit bis jetzt noch keine greifbare Form angenommen hat und nicht über inoffizielle Besprechungen hinaus gediehen sei. Nun kommt aber das Dementi in einer Form, die nach meiner Meinung einer amtlichen Bestätigung ähnlich sieht, nämlich: Es gehen Gerüchte um, die bayerische Regierung plane aus Anlaß des Osterfestes eine Amnestie. Davon könne keine Rede sein. Es werde wie immer zu Ostern eine Anzahl von Verurteilten freigelassen werden, aber keineswegs über das übliche Maß hinaus, vor allem sei eine besondere Bevorzugung politischer Gefangener keinesfalls beabsichtigt. – Also „aus Anlaß des Osterfestes“ werden wir nicht amnestiert werden, was ich auch nie angenommen habe und was auch, soviel ich gesehn habe, nirgends behauptet worden ist. Diese Einschränkung des Dementis beweist mir aber, daß aus anderm Anlaß sehr wohl eine Amnestie in Betracht gezogen wird. Allerdings bezweifle ich, daß die noch unter der derzeitigen Regierung erfolgt, die ihre letzte nationale Tat durch die Freilassung des Grafen Arco geleistet hat. In 4 Wochen werden die Herren Knilling und Gürtner bayerische Minister gewesen sein, ihre Nachfolger mögen aussehn wie sie wollen, – dem Verlangen der Völkischen, ihre politischen Gefangenen freizugeben werden sie sowenig ausweichen können wie der Ausdehnung der so erzwungenen Amnestie nach links hin. Daß dies die allgemeine Meinung draußen ist, ersehe ich auch aus einem Brief, mit dem mich Radbruch dieser Tage überraschte. Er schreibt mir über die Antwort, die ihm der Schutzverband Deutscher Schriftsteller auf meine Beschwerde an Löbe wegen der Konfiskation des Gedichts „Lenin ist tot“ erteilt hat, und die völlig negativ lautet. Immerhin sehe ich, daß Löbe Radbruch das Material gegeben hat, daß er sich um die Sache gekümmert hat, und daß die Verwaltung mit ihrer Konfiskation auch meines Schreibens an den Schutzverband kein Glück hatte. Interessanter aber ist mir in Radbruchs Brief der Passus, der die Hoffnung ausspricht, daß die jüngsten politischen Vorkommnisse in Bayern eine Wendung in unserm Schicksal bald herbeiführen werden. Sehr sympathisch berührte mich Radbruchs Bekenntnis, daß er unter seinem Unvermögen, uns helfen zu können, sehr gelitten habe. Außerdem schreibt er, er habe sich nur schwer entschlossen, von seiner Reichstagstätigkeit zurückzutreten und bleibe, zunächst im „Wahlkampf“ auch jetzt noch politisch tätig. Nun, ich fühle mich ihm noch ebenso „in alter Treue“ verbunden, wie er mir das zum Schluß bestätigt, und deshalb bin ich herzlich froh, daß er sich vorerst nicht mehr so kompromittieren kann, wie er es im Laufe der letzten beiden Jahre getan hat. – So stehn die Dinge zur Zeit. Bei uns aber geht alles seinen alten widerlichen Gang weiter. Unsre Zahl, die 19 Mann betrug, seit der Ferdl ging – im Juli vorigen Jahres waren wir einmal einen Tag lang 18 Mann, was nicht wieder erreicht wurde, ist seit vorgestern wieder auf 21 angewachsen, wo 2 neue Genossen im Abstand von 4 Stunden eingeliefert wurden. Einer – Wilhelm Brockmann – traf per Schub von Minden in Westfalen ein, wo er 3 Monate wegen verbotenen Waffenbesitzes zu absolvieren hatte. Er hat von seinen 15 Monaten Festung 4 Monate in der Plassenburg hinter sich gebracht, und soll, da die Neuverurteilung kurz vor Ablauf seiner 4jährigen Bewährungsfrist erfolgte, noch 11 Monate hier sein. Den größten Teil des Transports wurde er trotz seines Protestes und trotz des ausdrücklichen Verbots gefesselt transportiert. Der andre heißt Ludwig Plattner, ein junger politisch völlig indifferenter Mensch, der 1920 zu 15 Monaten Festung verurteilt wurde, weil er – von Beruf Chauffeur – diesen Beruf auch für die Räterepublikaner ausgeübt hatte; er sagt selbst ganz naiv, er hätte ebenso gern die Weißen gefahren, wenn sie seine Dienste beansprucht hätten. Das Gericht billigte ihm denn auch gleich Bewährungsfrist zu, aber man muß sich den Fall grade jetzt wo sich die Toleranz unsrer Justiz nach der andern Seite so verblüffend großzügig zeigt, doch notieren. Jetzt hat der arme Kerl in Amberg eine Gefängnisstrafe wegen Hehlerei absitzen müssen, und soll nun die ganzen 15 Monate hier auch noch nachholen. Fiat justitia! –– Das pereat mundus ist längst in Erfüllung gegangen.

 

Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 24. April 1924

Die Zeitungen bringen fast garnichts Wichtiges, – die Parteien beschimpfen einander, wie es vor Wahlen ja immer üblich ist, sauherdenmäßig. Die Unterschrift unter das Dawes-Gutachten, bzw. die daran anknüpfenden Forderungen der Repko wird wohl mit einiger Bestimmtheit geleistet werden. Dr. Schacht macht schon Propaganda dafür, die erforderlichen Gesetze auf dem Verordnungswege – d. h. aufgrund des Ermächtigungsgesetzes – noch vor Zusammentritt des neuen Reichstags zu erlassen. Man kann ja nicht wissen, wie sich die Mehrheit zusammensetzt. Die Völkischen – an ihrer Spitze Ludendorff! – werden dagegen stimmen, ebenso die Kommunisten (falls sich[sie] nicht wieder umschmeißen: wer wählt hat ja so viel „Verantwortungsgefühl“ – nur den Arbeitern gegenüber nicht), und die Deutschnationalen werden es so machen wie früher die Sozialdemokraten (und beim Republikschutzgesetz die Kommunisten): falls auch ohne sie eine Majorität zustandekommt, zeigen sie Charakter und machen stramm Opposition, kommt’s aber auf ihre Stimmen an, dann tritt eben das „Verantwortungsgefühl“ in Aktion und man hilft durch Stimmenthaltung, wenn das nicht ausreicht, mit Kopfnicken zur Annahme. Bayern hat zwar bei der Ministerpräsidentenkonferenz zur Einstimmigkeit des Jasagens mitgeholfen, scheint nun aber doch den Eigenartisten zuliebe allerlei zu quängeln zu haben. Der Bayerische Kurier setzt auseinander, daß die Umwandlung der Eisenbahn in eine Aktiengesellschaft dem Staatsvertrag Bayerns mit dem Reich widerspreche, und nun will man die Rechtsgiltigkeit der ganzen „Verreichlichung“ abstreiten und die „Verkehrshoheit“ wieder zurückhaben. Aber sie werden nicht mehr landen können. Das Fiasko der bayerischen Politik seit 4 Jahren ist zu eklatant, was sich ja auch in der Umstellung des Reichszentrums zur Bayerischen Volkspartei äußert. Das stellt zur Reichstagswahl in ganz Bayern eigne Kandidaten auf, und es scheint, als ob ein größerer Abmarsch aus den Knillingreihen erfolgen wird, als man voraussah. Besonders in den ländlichen Bezirken liest man unter den vom Zentrum aufgestellten Kandidaten Namen von bekannten bäuerlichen Politikern, die bisher zur Volkspartei gehörten. In der Rheinpfalz gar, wo ja ohnehin ein demokratischerer Wind geht, gehn in den Stadtparlamenten die Klerikalen fraktionsweise von der Bayer. Volkspartei zum Zentrum hinüber, – und dort finden am 4. Mai erst noch auch die Landtagswahlen statt, sodaß die armen Eigenartisten in ihrem eignen Landtag mit einer Zentrumsfraktion werden zu rechnen haben. Für uns, das glaube ich im Gegensatz zu allen Genossen, ist die Zusammensetzung der Parlamente ganz ohne Bedeutung. Ist die Amnestie reif, dann kommt sie, und daß sie reif ist, glaube ich. Vielleicht ist ein kleiner Vorgang, der heute die Gemüter bewegt, in dieser Hinsicht symptomatisch: Klingelhöfer, der aus Metz ist, wurde heute – nach 5 Jahren! – plötzlich befragt, wie seine Staatszugehörigkeit zu vermerken sei: er hat sich für Deutschland entschieden. Es ist wohl denkbar, daß diese Befragung zu dem Zweck geschah, für den Fall der Amnestie die Liste der Räterepublikaner fertig zu haben, die gleich ausgewiesen werden sollen. Wie mir Zenzl schreibt, ist der Besuch Pestalozzas bei uns ohne Aufsicht genehmigt worden; die Liga für Menschenrechte nimmt die Kosten auf sich. Da werde ich nun mit den Vorarbeiten beginnen, man müßte versuchen, eine Aktion der Anwälte – unsrer evtl in Verbindung mit denen der Hitlerschen – zustande zu bringen. Außerdem soll P. das ganze inzwischen angesammelte Material bekommen, über die Rechtsverhältnisse sowohl wie über den Strafvollzug, und darüber den Gegensatz zwischen hier und Landsberg aufgezeigt erhalten, wo Hitler reguläre politische Konferenzen abhalten kann, – so war jetzt wieder Ludendorff bei ihm, während mir neulich beim letzten Besuch Zenzls ein Aufseher in dem Augenblick, als ich ihr einen Kuß gab, mit einem ängstlichen Anruf dazwischenfuhr, weil er glaubte, ich hätte ihr was zugesteckt. – Bevor ich die heut fälligen Briefe schreibe, ist wieder eine Totenschau nötig. Auf einer Gastspielreise ist Eleonore Duse gestorben, deren große Kunst ich einmal in Mailand sah. Sie spielte die Nora, – spielte allerdings etwas ganz andres als Ibsens Nora, aber sie war herrlich, unvergleichlich schön und in der Leidenschaft wie in der Resignation von einer Reinheit und Größe, die mir trotz der fremden Sprache gewaltig nahe ging. – Und in München ist wieder ein Mann gestorben, der dort das literarische Leben stark beeinflußt hat: Hanns von Weber, der Verleger der vielen prachtvollen bibliophilen Raffinessen, Herausgeber des „Zwiebelfisch“ (in dem er meinem „Kain“ immer die freundlichste Anerkennung zuteil werden ließ) und persönlich ein angenehmer, sehr kluger und kultivierter Mensch, der mir auch aus dem Wedekind-Kreise näher gestellt war, und der, soviel ich weiß, der Entfaltung des Rassenidiotismus in München, in dem er den Grund alles Verfalls von Kultur und Geschmack erkannte, mit gesalzener Ironie Einhalt zu tun suchte. Sein Witz ließ ihn manchmal vorzügliche Worte finden. So stammt meines Wissens von ihm die Charakteristik Rabindranath Tagores als: Gangeshofer. Diese Bosheit allein verdiente ein Denkmal für Hanns von Weber, und zum Glück nicht diese Bosheit allein.

 

Abschrift: „An den Herrn Festungsvorstand. Wie gelegentlichen Aeußerungen der Aufsichtsbeamten zu entnehmen war, ist seit dem 15. April des J. eine neue Festungshausordnung in Kraft. In der Annahme, daß es sich hierbei um die Ausführungsvorschriften der Verordnung des Herrn Justizministers vom 15. März ds. J. handelt, bitte ich um Auskunft, ob die Festungsverwaltung in der Lage und bereit ist, mir einen Abdruck der Hausordnung zuzustellen. Ich bemerke, daß die Hausordnung vom 16. August 1919 den Festungsgefangenen auf Ansuchen ausgehändigt worden ist. Sollte die Verwaltung es ablehnen, einzelnen Gefangenen einen Abdruck zu übergeben, so frage ich an, bei welcher Stelle ich mir die Hausordnung gegen Bezahlung bestellen kann. N’feld 24. Apr. 24 Erich Mühsam

 

Niederschönenfeld, Sonnabend, d. 26. April 1924

Ich hatte die Absicht, heute mal wieder längere Zeit vor dem Tagebuch zuzubringen, um mir den Ekel und die Wut über den ganzen politischen Betrieb, die Parteikabalen und Streberrankünen von der Seele zu schreiben. Diese Absicht muß ich vertagen, weil ich durch einen Eilbrief, der heute früh ankam, genötigt bin, eine ganze Serie von Briefen zu schreiben. Die Braut meines Seppl teilt mir mit, daß der arme Junge, der seit 6 Wochen in Neudeck in Untersuchung sitzt, noch immer keinen Verteidiger hat. Die KP-Funktionäre, bei denen das gute Mädel war, haben sie alle vertröstet, es werde jede Pflicht erfüllt werden, sie brauche sich um nichts zu kümmern, aber kein Anwalt ließ sich beim Seppl blicken. Sie ging zu Löwenfeld, der alles ablehnte, da die KPD ihn noch nicht für die letzte Verteidigung (im Flora-Prozeß) honoriert habe. Nun wendet sich die geängstete Braut an mich, und ich werde nun alles in Bewegung setzen, daß Pestalozza die Sache in die Hand nimmt. Da hat die liebe Partei natürlich jetzt mit dem Wahlrummel viel zu viel zu tun, als daß sie sich auch noch um Rechtshilfe für ihre verfolgten Genossen annehmen könnte, und die politischen Verurteilten in der Haft müssen sich rühren, damit die politischen Delinquenten in der Untersuchung einen Anwalt kriegen. In dem einen Fall wird es ja gelingen, aber wir haben in Deutschland 7000 politische Gefangene, ich möchte nicht wissen, wieviele von diesen armen Teufeln, die man ohne Beistand läßt, deswegen ins Zuchthaus müssen, wenn sie sonst mit Festung oder Gefängnis jedenfalls aber billiger davonkommen könnten. – Mein Schrieb an den Vorstand wurde dahin beantwortet, daß mir die Hausordnung zugestellt würde, sobald die Formulare vom Justizministerium eingetroffen wären, was jeden Tag zu erwarten stehe. Ich bin gespannt auf den Inhalt. – Gestern vormittag gab es eine große Sensation. Ich ging mit Kain im Hof herum, als uns eine dicke graue Rauchwolke über dem Altbau auffiel, die sich so schnell verdichtete und verstärkte, daß bald kein Zweifel an einem Brand sein konnte. Tatsächlich ertönten dann auch gleich die Alarmsirenen und von den Nachbarorten rasselten die Feuerwehren herbei. Es brannte, wie wir bald erfuhren, in keinem zur Anstalt gehörigen Gebäude, sondern ein gegenüber an der Straße gelegener Heustadl ging in Flammen auf. Nach einer halben Stunde war das Häuschen wohl schon zusammengekracht. Die Witze, die bei uns gemacht wurden, will ich nicht alle notieren. Am meisten belacht wurde wohl die Vermutung, daß zur Rettung Bayerns unsre konfiszierten marxistischen Schriften verbrannt würden. – Nun haben wir also auch ein Feuer am Ort erlebt, können also von Niederschönenfeld erzählen, was es irgend zu erzählen gibt, und so stände unsrer Freilassung auch nicht mehr das Bedenken gegenüber, über Niederschönenfeld noch nicht ausreichend informiert zu sein. Sonst gibt es keine neuen Anhaltspunkte für Bleiben oder Freiwerden. Heute sind die Zeitungen voll von Nachrufen auf Helfferich, der bei dem gestern gemeldeten, großen Eisenbahnunglück bei Bellinzona (Zusammenstoß zweier Schnellzüge der Gotthardbahn) verbrannt ist. Natürlich macht man alle möglichen Honneurs vor der Leiche desselben Mannes, den man gestern noch als Schurken und Verderber bespieen hat. De mortuis nil nisi bene! Die widerlichste Heuchelei, die ich kenne. Spräche man über Lebende wie Tote die Wahrheit, dann brauchte man in der Beurteilung von Lebenden und Toten keine scheinheiligen Unterscheidungen zu machen. Eben lese ich zufällig, daß in Berlin Auguste Hauschner gestorben ist, die feine Sammlerin von feinen und klugen Geistern in ihrem Hause. Landauer war mit ihr befreundet, und so kam ich auch ein paar Mal in ihre Wohnung in der Kaiserin Augusta Straße, wo er einen Vortragszyklus hielt. Es scheint, als wollte alles, was noch Kultur und geistigen Willen hatte, die Flucht ergreifen aus dieser Zeit, in der Lüge, Brutalität und Abgeschmacktheit schmähliche Orgien feiern. – Allerdings sterben ja auch die Repräsentanten dieser neudeutschen „Kultur“, soweit sie überlegene Köpfe sind, serienweise weg, – jetzt hintereinander Stinnes und Helfferich. Noch schlimmer: so wird nur noch die gedunsene Mittelmäßigkeit übrig bleiben.

 

Niederschönenfeld, Montag, d. 28. April 1924

Mir geht es wieder einmal gesundheitlich schlecht. Jetzt war ich über 1 Jahr lang von meinen Herzattacken frei. Die letzte, sehr arge, hatte ich damals in Einzelhaft, und nun ist seit vorgestern der selbe Zustand wieder da. Ich schränke das Rauchen stark ein, nehme kalte Fußbäder, schlucke einige Mal täglich meine Herztropfen, – aber bis jetzt spüre ich in dauernd wachsendem Maße die quälenden Symptome, die nirgends greifbar sind und doch deutlich genug anzeigen, daß ich krank bin. Hoffentlich überstehe ich wie bisher noch jeden auch diesen neuen Anfall, aber ich weiß, daß jeder Anfall den Tod in sich hat und irgendeiner irgendeinmal ihn herbeiführen wird. Grade jetzt, wo das Ende der Haftzeit sichtbar winkt, wäre es für Zenzl schrecklich, mich noch als Leiche hier herausholen zu müssen. Wüßte ich irgendein Mittel, den Aufschub mit Sicherheit zu bewirken, dann wollte ich mein Leben für eine kurze Zeit nach der Neuvereinigung mit ihr gern verpfänden. Denn im allgemeinen ängstigt mich der Gedanke an Sterben und Tod nicht sehr, wenn auch noch viele Aufgaben winken und mich eine Frist von einigen Jahren erhoffen lassen. Aber vor dem schon dämmernden Morgen kaput gehn müssen, – das ist ein qualvoller Gedanke, und peinigender als alles die furchtbare Strafe, die darin für meine geliebte Frau läge, deren rührende Liebe etwas Besseres verdient. – Aber ich muß mich vorbereiten, soweit das hier geht, obgleich ich nicht recht weiß, was ich tun kann, um beispielsweise meine Tagebücher zu retten, die ich um alles nicht in den Klauen meiner Feinde lassen oder gar vernichtet wissen möchte. Vor 2 Jahren schon habe ich mein Testament hinausgegeben, und ich glaube, darin war wohl das meiste enthalten, was mir am Herzen liegen kann. Gegen die Anbiederungen aller linken und rechten Schmöcke „angesichts der Majestät des Todes“ kann ja wohl der Tote nicht protestieren, irgendein öffentliches Verlangen der Art käme zu spät und würde auch kaum verstanden werden. Mir wird übel, wenn ich dran denke, daß plötzlich all diese Gesellen, die bisher dafür bezahlt waren, mir allen Dreck anzuwerfen, mit scheinheiligem Augenaufschlag um meine Bahre herumstehen werden, wie sie es jetzt [bei] Helfferich machen. Als ob sein Tod etwas davon ungeschehn machte, daß er einer der ärgsten Kriegstreiber war, daß er als Direktor der Deutschen Bank sein Bagdadbahnprojekt als Mittel benutzte, um die unglücklichen Völker der ganzen Welt für die Interessen seiner Bank auf die Schlachtbank zu führen; daß er während des Krieges als Reichsminister die Überbürdung aller Kriegslasten Deutschlands auf die arbeitende Bevölkerung inszenierte, daß er jenes System der Geldentwertung durch Inflation erfand (die „Dahrlehenskassenscheine“), die das gesamte „mündelsichere“ Sparvermögen des Volks den Kriegslieferanten zuführte, daß er die Kriegsanleihen ohne Steuerdeckung ausschrieb, die der ungeheuerlichste Raubzug waren, den die Reichen jemals gegen die Armen durchgeführt haben; daß er, nachdem, ebenfalls zum guten Teil mit seinem Verschulden, der Krieg noch lange nach der Besiegelung der Niederlage bis zum vollständigen Weißbluten des deutschen Volks weitergeführt wurde (die Ubootkampagne) – nach dem Fiasko dieser seiner Desperadopolitik die Stirn hatte, neuerdings die Politik Deutschlands zu beeinflussen, im Sinne der Hetze gegen Erzberger und Rathenau, an deren Tod er sicherlich mitschuldig war und im Sinne der Zutreiberei im Dienste Stinnes’ und der Stinnesel. In der gesamten Presse weint ihm nun der unehrliche Schmerz derer nach, die ihm freilich alle Wege zu seiner verwegenen Vergewaltigungspolitik freigemacht haben, also besonders der Sozialdemokraten, deren Schuld gegen das deutsche Volk unermeßlich und unsühnbar ist. Ihre Wahlartikel und Propaganda, worin sie die Reaktion aller erdenklichen Schandtaten anklagt, reflektieren nur ihre eigenen Sünden. So haben auch sie am allerletzten Ursache, sich über die Hitlerleute zu beschweren, die nun in München – 38 Mann hoch – wieder vor dem „Volksgericht“ stehn, und sich für die Demolierung und Plünderung in der Münchner Post, die Stadtratsfestnahme und Bedrohung und den Überfall in der Wohnung Auers zu verantworten haben. Es ist freilich eine dolle Sorte, die da angetreten ist, und ihre Heldentaten setzen sich aus höchst übeln Rohheiten, aus Habgier und innerer Verrottung zusammen. Unsre Genossen haben 1919 wahrhaftig nicht entfernt so gehaust wie diese Bande, und wie hat man gegen sie mit Zuchthaus gewütet! – Allerdings, das geschah unter sozialdemokratischem Regime, und wenn jetzt der Staatsanwalt schon nur Festung bis höchstens 2 Jahren beantragt, (nur einmal 5 Monate Gefängnis für einen mehrfach wegen Diebstahl vorbestraften Beteiligten, der beim Plündern erwischt wurde), so haben ja die Sozialdemokraten vor 5 Jahren deshalb gegen uns alle Furien der Rache losgelassen, um der Reaktion auf ihre Plätze zu verhelfen, – in der trügerischen Hoffnung freilich, die würde sich gegen sie dankbar erweisen, und ihre Lakaiendienste für alle Zeit in Anspruch nehmen und mit Avancement belohnen. Statt dessen werden sie mit uns Revolutionären zusammen als Verräter und „Dolchstößer“ denunziert, und wenn der Professor Coßmann (auch einer meiner alten Bekannten) erreicht, was er mit seinen patriotischen Fälscherkunststücken in den „Süddeutschen Monatsheften“ erreichen will, dann könnte ich noch mal das Pech haben, mit Auer zusammen an denselben Galgen geknüpft zu werden, was ich doch wahrlich nicht verdient habe. Sonst aber – wenn mir der Auervater als Leidensgenosse erspart bleibt, wäre mir der Galgen für meine Überzeugung viel erwünschter als der Tod durch Herzschlag in dieser öden Burg. Bis jetzt hat mein Wille noch immer gesiegt, und so hoffe ich, wird der Kelch auch dieses Mal gnädig vorbeigehn.

 

Niederschönenfeld, Dienstag, d. 29. April 1924

Bis jetzt spüre ich keine Besserung. Im Gegenteil, ich fürchte, daß die scheußlichsten Tage erst noch bevorstehn. Grade im Augenblick ist mir recht bedrücklich zu Mute. Dabei ist meine Stimmung wegen des Seppl stark gepreßt. Der arme Junge hat wieder geschrieben. Er beklagt sich über seine Genossen, die ihn – in der 8. Woche seiner Untersuchungshaft immer noch ohne jeden Bescheid gelassen haben, und nun fragt er mich an, wie die §§ 7 und 8 des Sprengstoffgesetzes lauten. Das ist das infame Gesetz, das nur Zuchthaus kennt, und so mußte ich dem braven Buben schreiben, daß er die Hoffnung, hierher verurteilt zu werden, wohl aufgeben muß. Gelingt es nicht seinen Freispruch zu erzielen, dann ist die ganz schwache allerletzte Hoffnung, daß die Zuchthausstrafe höchstens 8 Monate beträgt, die dann in 1 Jahr Gefängnis umgerechnet würden. Ich bin außerordentlich ängstlich um das Schicksal des lieben Kerls, dessen Brief zu allem eine Niedergeschlagenheit verrät, wie ich sie garnicht bei ihm kenne und die wohl auf seine im Kriege erworbene Nervenkrankheit zurückzuführen ist. – Die Zeitungen bringen fast nichts als Wahlschimpfereien; die Reichsregierung selber erläßt nun auch einen Wahlaufruf, der auf einen Appell hinausläuft, nur solche Leute zu wählen, die für die Annahme der Reparationsforderungen aufgrund der Denkschrift der Dawes-Kommission sind. Dieser Wunsch der Herren ist erklärlich. Sie wissen, daß jede Hoffnung, die „Stabilität“ der Rentenmark zu retten – in Wirklichkeit kann man nur noch die Fiktion davon retten – in der schleunigen Ablösung dieses Schwindels durch die Gründung der Goldnotenbank besteht. Die Ablehnung der Forderung, sofort Gesetze und Verordnungen zu schaffen, die die Realisierung der Dawesschen Vorschläge, die von sämtlichen Alliierten angenommen sind – die Einwendungen der Franzosen gehn nirgends gegen die Prinzipien, sondern überall nur gegen die Versuche Deutschlands, die Erfüllung aller Verpflichtungen bis zur Räumung des Ruhrgebiets hinauszuzögern –, ja nur die Verschleppung des Ganzen wäre die ungeheuerste Katastrophe, die man je in Deutschland mit der Währung erlebt hat. Das sehn die Verantwortlichen auch ein, bauen aber im gleichen Augenblick dem gleichen Dr. Helfferich, dem auch die Ruhrbesetzung und die Inflationskatastrophe des letzten Jahrs zur Last fällt, Altäre, als wäre er der wahrhaft gute Geist Deutschlands gewesen. Wenn ich richtig sehe, so liegen die Dinge etwa so: als Schacht die Stabilisierung durch die Errichtung der Rentenbank in seiner Façon gegen Helfferich durchgesetzt hatte, wurden im Ausland große Einkäufe auf Kredit ins Werk gesetzt. Man glaubte die Bezahlung in wenigen Monaten, wenn die „Zwischenlösung“ zu einem Definitivum geworden und die deutschen Zahlmittel internationale Geltung gewonnen hätten, sicher leisten zu können. Das entsprach aber garnicht dem Sinn der Schachtschen Gründung. Da war vorgesehn, daß die Rentenmark nur im Inland kursieren sollte, und er hatte sogar schon einmal dem Ansinnen an die Rentenbankverwaltung, Neudrucke der Rentenmarknoten zu veranstalten, widersprochen. Aber jetzt kommen die Auslandsgläubiger, da die Zahlungen für den Import fällig werden und sollen befriedigt werden. Selbstverständlich kann man sich nicht anders helfen als durch Neuausgabe von Rentenmark. Die Inflation ist also schon da; schon warnt auch die italienische Regierung ihre Hoteliers und Geschäftsleute vor der Annahme des ungedeckten Drecks und erinnert an die 7 Milliarden Mark, die die deutsche Finanzschiebung schon mit dem früheren Wischgeld dem Ausland herausgeholt hat. Schon steigen auch bei uns die Preise derartig, daß die Beschwichtigungen ohne Eindruck bleiben müssen. Denn wenn Herr Schacht versichert, das Gold selber mache den Prozeß der Entwertung auch in hochvalutarischen Ländern durch, so wäre ja relativ garnichts geändert, – und im übrigen ist das nur die Bestätigung, daß der von allen, auch den marxistischen Parteien als Hanswurst verschrieene Silvio Gesell vollständig recht hat, daß nämlich Festwährung mit Gold- oder sonst welcher „Deckung“ überhaupt nicht möglich ist. Bis zum 4. Mai muß man also unter allen Umständen so tun, als wäre die Inflation vollständig überwunden; aber nachher möchte man halt auch nicht gern als Lügner und Schwindler beschimpft werden und möchte vor allem die Revolution vermeiden, die man bei einer zweiten Katastrophe der Mark nicht wieder mit Maschinengewehren und Zuchthäusern kaput machen könnte. Mit der Kommunistenhetze – jetzt operiert man mit einem Tscheka-Märchen im Rinaldo Rinaldini-Stil – ist doch schon lange kein Geschäft mehr zu machen. Man erreicht doch bloß damit, daß die ungefährlichen Schwätzer und Realpolitiker von der Arbeiterschaft ernster genommen werden als sie zu nehmen sind, und will erreichen, daß die Aufmerksamkeit von den konterrevolutionären Schandtaten der Ehrhardt-, Roßbach-, Hitler- und Kahrleute abgelenkt wird – vor allem die Aufmerksamkeit des Auslands. Das gelingt in dem Maße, daß man jetzt betreten mitteilt, daß eine gemeinsame Note Englands, Frankreichs und Belgiens wegen der Geheimverbände eingetroffen sei. Was aber drin steht, erfährt man nicht. Man kann sichs eh denken, denn man weiß ja so ungefähr, was man nicht sagen darf, will man nicht wegen „Landesverrats“ ins Zuchthaus kommen. Lügen – Lügen – Lügen – das ist die ganze Kunst der deutschrepublikanischen Politik. Und weil es 5 Jahre gegangen ist, bilden sie sich ein, es geht so ad infinitum. Ach, 5 Jahre sind in der Weltgeschichte ein Augenzwinkern, und auch wenn der Lügenlauf erst nach 20 Jahren stolpert und alles in Trümmer bricht, werden diese Lügen noch kurze Beine gehabt haben.

 

Niederschönenfeld, Mittwoch, d. 30. April 1924

Mein Zustand ist unverändert, – und damit muß ich zufrieden sein. Wenn es mir gelingt, die Attacke weiterhin so zu parieren wie es bisher gelungen ist, kann ich hoffen, auch an dieser Station lebendig vorbeizukommen. Jetzt sterben müssen – das wäre gemein. Denn die Hoffnung, daß Niederschönenfeld kurz vor der Auflösung als Festung steht, scheint wirklich begründet. Der Prozeß gegen die 37 Nachläufer im „Kleinen Hitlerprozeß“ ist zu Ende. Das Urteil – unter dem Vorsitzenden Simmerding, dem Beisitzer in x Kommunistenprozessen, die endlose Jahre Zuchthaus und Gefängnis nach sich zogen, ist gefällt. Es ist so ausgefallen, wie man es ungefähr erwarten konnte: nicht einmal der äußere Schein wird mehr gewahrt: weil sie „vaterländisch“ gesinnt waren, sprechen ihre Vergehn nicht gegen sie. Die höchste Strafe lautet auf 1½ Jahre, die Strafe für 2 Leute auf je 1 Jahr 4 Monate und für alle übrigen auf die üblichen 15 Monate. Die 2 Hauptübeltäter müssen, ehe die Bewährungsfrist in Kraft tritt, für 3, – 2 weitere Herren für 1 Monat nach Landsberg, alle andern sind ihrer Strafen ledig – und selbstverständlich wird auch die Bewährungsfrist gegen den Uhrmacher Maurice, der in Mannheim die Bombe in die Börse schmiß, dann wegen weiterer Gewalttaten verurteilt wurde und jetzt der Hauptheld in Auers Wohnung war, nicht widerrufen. Der Herr Feichtmeyer aber, der sich erwischen ließ, als er sich in der Münchner Post die Taschen vollstopfte, und der schon mehrfach wegen Diebstahls vorbestraft war, bekam – 2 Monate Gefängnis, die durch die Untersuchungshaft verbüßt sind; für die Festungsstrafe hat er Bewährungsfrist vom ersten Tage an. Sowohl die Münchner Post wie der Bayerische Kurier konstatieren, daß die Rotgardisten 1919 nicht entfernt so gehaust haben wie diese Leute und erinnern an die Strafen, die sie bekamen, – der Bayerische Kurier vorläufig nur ganz nebenbei; vermutlich kommt morgen noch ein Extraartikel. Tatsächlich muß man ja mit Entsetzen und Ekel an die Urteile denken, die gegen unsre Genossen (Kopp, Strobel, Streidel, Schroll, Schott und wie sie alle heißen) gefällt sind, die alle heute noch nach 5 Jahren in dem entsetzlichen Straubinger Kerker sitzen; muß hier im Hause die „Straftaten“ von mir, Sauber, Karpf etc mit denen der Ludendorff, Hitler, Kriebel und die der Kerle, die jetzt sozusagen freigesprochen sind mit denen von Kain, Olschewski, Egensperger, Hornung und erst der Kleinen mit den verpatzten Bewährungsfristen (Schönbrunner!) vergleichen, um die ganze Schamlosigkeit der politischen Rechtsprechung zu begreifen, die in Bayern betrieben wird. Die Richtung der politischen Gesinnung entscheidet alles, rechtfertigt jedes Verbrechen, wenn sie genehm ist, macht die geringste Lappalie zum Verbrechen, wenn sie verpönt ist. In Bayern herrscht der Geist jener Inquisition, die für geistige Bekenntnisse den Scheiterhaufen parat hielt, ohne jede Hemmung. Aber es sieht doch so aus, als ob es denen, die dieses Kraut gesäet haben, allmählich selber ängstlich zu Mut wäre davor, und wenn die Klerikalen schon Vergleiche zwischen den Völkischen und den Räterepublikanern anstellen, die zu deren Gunsten ausfallen, so ist wohl anzunehmen, daß ihnen schon der „negative Bilanzstrich“ des Staatsrats Meyer in den Gedanken umgeht. Daß für uns günstige Perspektiven offenstehn, dafür sprechen noch verschiedene Umstände. Man erörtert augenblicklich lebhaft die Zusammensetzung der künftigen bayerischen Regierung. Der Bayerische Kurier hat in 5 ausführlichen Artikeln alle Koalitionsmöglichkeiten untersucht und ist zu dem Resultat gelangt, daß weder ein Zusammengehn der Bayer. Volkspartei mit etwelchen Marxisten noch mit den Völkischen in Frage kommen könne, daß eine „Regierung der Mitte“ bei der Stärke der Völkischen und der Kommunisten und Sozialdemokraten „nicht tragfähig“ wäre, daß endlich ein „Beamtenkabinett“ von Fachleuten nach dem Ausfall des Plebiszits gleichfalls außerhalb aller Diskussion bleibe. Das Resultat ist: die Bayerische Volkspartei müsse sich opfern und das Geschäft allein machen; lasse man sie aber nicht arbeiten, dann müßte sie die Schuld ablehnen und Neuwahlen arrangieren. Mir scheint folgendes in Vorbereitung zu sein: Die Herren Knilling und Gürtner müssen natürlich verschwinden. Die „linken“ Klerikalen aber schachern schon mit den Auerochsen über den Preis, der ihnen deren Wohlwollen – lies: loyale Opposition – sichert, und ich müßte den Auervater und den Kammer-Sänger schlecht kennen, wenn die nicht das Konkordat gegen die Zusicherung schlucken sollten, dafür etwas weniger in ihrer Agitation inkommodiert zu werden. Eine der Forderungen aber, die jetzt auch die Sozi stellen müssen – es geht dank der Hitlerprozesse tatsächlich nicht mehr anders – und die die Bayerische Volkspartei auch akzeptieren wird, ist die Amnestie für uns, die umso eher bewilligt werden kann, als die Völkischen die Amnestie für ihre Leute zweifellos mit allen Mitteln durchzusetzen suchen werden. Es kommt hinzu, daß die Eigenartisten im Fall der Weigerung mit der erheblichen Wahrscheinlichkeit zu rechnen haben, daß wir von Reichs wegen amnestiert würden, und das wäre ein Schlag gegen die „Hoheits“-Ansprüche, der nicht leicht wäre. Man hat aber an Prestige ohnehin schon schwer eingebüßt. Die Kampfansage des Zentrums gegen die Bayerische Volkspartei wirkt sich in der Reichspolitik gegen Bayern schon jetzt sichtbar aus. In der Eisenbahnfrage hat das Reich auf die bayerischen Forderungen eine so niederschmetternd bündige Absage gegeben, daß man sagen kann: die Überlegenheit, die bisher den Bayern vom Reich stets durch Zurückweichen auf jede Provokation zugestanden wurde, ist aufs Reich übergegangen, und das revanchiert sich jetzt gegen die Frechheiten, die es jahrelang einstecken mußte. Dafür scheint mir jetzt auch sehr deutlich die Tatsache zu sprechen, daß General v. Seeckt in München eine große Truppenübung in eigner Person ansehn will, bei welcher Gelegenheit ihm sämtliche Münchner Militärkapellen eine Serenade bringen müssen. Das ist doch eine offenkundige Demonstration der Marx-Regierung gegen die Knilling-Regierung. Knilling hatte im Oktober erklärt, mit Seeckt könne Bayern überhaupt nicht mehr verhandeln, und man stellt sich hinter Lossow. Der steht jetzt mit der Türkei in Verhandlung, um dort engagiert zu werden (auch Kahr* und Seisser sind schon a. D.) – und Seeckt kommt nach München und läßt sich feiern. Bei dieser Gelegenheit soll wohl den Nationalsozialisten zugleich Gelegenheit gegeben werden, Gegendemonstrationen zu machen, um durch Ohrfeigen in der Zeit das Hosenstrammziehn in der Not zu ersparen; falls sie aber überhaupt im Hintergrund bleiben, ihre Wahlchancen zu vermindern. – All dies sind für uns ganz zweifellos äußerst wertvolle Symptome, daß eine Änderung sich anbahnt, und sie zu wünschen mehren sich die Gründe unausgesetzt. Heut kam die Eröffnung, daß – der Abbau des Staats! – Niederschönenfeld morgen aufhört, eine eigne Postagentur zu haben und Landbestellbezirk wird. Der Landbriefträger wird 1 mal täglich die Post von Rain bringen – (der Postwagen, der nun nicht mehr hier halten wird, brachte 2 mal Briefe und Pakete), und wird Pakete nur mitbringen, soweit er sie tragen kann. Weitere Pakete müssen wir uns – natürlich auf unsre Kosten – von Rain holen lassen. Damit werden wir, abgesehn von der Reduzierung der Postausgabe auf täglich eine statt zwei, unsre Pakete gewöhnlich erst mit 1½ Tagen Verspätung und mit Unkosten für die Bestellung bekommen, woraus sich noch unübersehbare Unzuträglichkeiten ergeben werden, und die müssen wir ja stets als Widerspänstigkeiten büßen. Ob da die neue Hausordnung uns Besserung gewähren wird? Vorläufig warten wir noch auf sie. Doch erhielt ich vorgestern ein Begrüßungs-Telegramm von der Leipziger Hauptversammlung der proletarischen Freidenker ausgehändigt, was sehr überraschend war, da derartige Kundgebungen noch stets bis jetzt zu den Akten kamen. – Mag die Hausordnung sein wie sie mag – hoffen wir, möglichst wenig Bekanntschaft mit ihr zu machen.

 

* Kahr nur als Generalstaatskommissar, bleibt aber Regierungspräsident von Oberbayern

 

Niederschönenfeld, Freitag, d. 2. Mai 1924.

Landauers 5. Todestag weckt, wie die Erinnerungen der letzten Tage allgemein, viele Gedanken, unter denen der an den eignen Tod in meinem bedenklichen Zustand der nächstliegende ist. Vorgestern gegen Abend wurde die Geschichte recht bedrohlich – dieses gleichzeitige Einsetzen von Schwindelgefühl, (als ob der Boden beweglich würde und im eignen Körper der Schwerpunkt in verkehrte Lage geraten wäre) mit Druck und Stichen in der Herzgegend erregt ein unmittelbares Angstempfinden, – ein Warten: wird’s jetzt kommen? Ist dies nun also das Ende? Als beste Medizin erweist sich Gehn, und ich renne außer 2 Stunden trotz der unausgesetzt zwischen Sonne, Regen, Kälte und Wärme schwankenden Witterung im Hof, noch stundenlang auf den Gängen spazieren, nehme außerdem, um das Blut in Bewegung zu bringen, abends vor dem Hinlegen ein kaltes Fußbad und hoffe, bald sagen zu können: Gezwungen. Als Lektüre habe ich mir Schopenhauers Kapitel über den Tod aus der Welt als Wille und Vorstellung, das ich als Sonderdruck besitze, vorgenommen. Es gibt wohl keine bessere Tröstung, wenn man von seinem Körper gezwungen wird, die Möglichkeit eines plötzlichen Endes in ständige Erwägung zu ziehn. Aber ich kann nicht leugnen, daß mir, so innig mir das Epikursche ό δανατος μηδεν προς ήμας ins Bewußtsein und Erkennen übergegangen ist, die Wut hochsteigt beim Innewerden der – wenn nicht wahrscheinlichen so doch möglichen Infamie, ich könnte grade noch vor Sonnenaufgang dran glauben müssen. Ich käme mir vor, wie der treuloseste und undankbarste Kerl gegen meine fast unbegreiflich selbstlose Zenzl, – nein, diese Frau liebe ich und ich will nicht sterben müssen, ohne wenigstens kurze Zeit mit ihr gelebt zu haben. Nun sieht es wirklich stark so aus, als ob die Genossen recht behalten sollten, die schon für den Juni die von Bayern selbst erlassene Amnestie erwarten. Die Oberfränkische Volkszeitung (sozialdemokratisch) bringt unter dem Stichwort „Keine Linksbegnadigungen in Bayern“ folgende Meldung: Von mehreren Seiten angeregt habe sich das bayerische Kabinett mit der Frage von Begnadigungen der Verurteilten der Münchner Räteregierung wie auch der Begnadigung Fechenbachs und andrer eingehend beschäftigt. Wie man vernehme, seien „vorerst Gnadenakte des Kabinetts nicht geplant“. Das ist allerdings wohl das Verheißendste, was bisher in unsrer Sache je veröffentlicht worden ist. Zunächst die Tatsache selbst, daß das Kabinett zum ersten Mal zugibt, sich mit der Frage „eingehend“ beschäftigt zu haben, und zwar auf Anregung „von mehreren Seiten“, die doch vermutlich nicht unsresgleichen sein werden, – ist etwas in Bayern noch nicht Erlebtes. Viel bedeutsamer aber ist dann die Form, in die das negative Resultat der Erörterung gekleidet ist. „Vorerst“, – jede grundsätzliche Abneigung wird also aufgegeben, und ferner „Gnadenakte des Kabinetts“ werden nicht geplant. Also keine Einzelbegnadigungen, wofür allein das Kabinett zuständig ist. Offenbar haben sich die Herren gesagt: in 14 Tagen amtiert das Knilling-Kabinett ohnehin nicht mehr. Mit dem bewährten Prinzip der Einzelbegnadigungen auf Bewährungsfrist können wir, selbst wenn Fechenbach mit einbegriffen wird, die Forderung nach Amnestie nicht still kriegen, also hat’s keinen Zweck, in Niederschönenfeld bis auf vielleicht 5 Mann freizulassen. Tollers Strafzeit läuft sowieso am 16. Juli ab, Sauber und Olschewski sind Reichstagsaspiranten, bleibt als Wauwau bloß noch Mühsam, und der zieht von Bayern fort. Strengen wir uns also nicht noch zu guterletzt überflüssigerweise an, sondern überlassen wir die Bande dem Schicksal eines der Nachfolgeregierung und dem Landtag obliegenden Amnestiegesetzes. Also: im Juni kann’s werden, und das fast nicht zu Ende zu denkende Glück, tatsächlich schon in 5, 6 Wochen bei Zenzl zu sein, gewinnt Umrisse. Nun heißt’s aber noch die Krankheit besiegen und dem Tod die Bosheit verderben, den Strafzweck doch noch bei mir erreichen zu lassen. Es wäre zu blöd und zu gemein, und ich will’s nicht haben. Aber es ist dieses Frühjahrs-Übergangswetter, heute so und morgen so, – und da wird einmal fleißig gestorben. Ich habe schon wieder eines alten Weinstubenfreundes zu gedenken, der es mit noch nicht 53 Jahren geschafft hat: Der Dr. Fritz Gotthelf, der seltsame Kauz, der durch einen ungeschickten Duellgegner ohne Nase herumlaufen mußte, der Pechvogel, der all sein Heil aufs Glücksspiel setzte, bis er sein Glück dadurch fand, daß er ein liebes Mädel fand, das ihm trotz der Entstellung gut war. Ich riet ihm dringend, die Choristin vom Gärtnerplatztheater zu heiraten, gegen die sich sein Bourgeoisinstinkt wehrte, während sein Herz nach ihr brannte. Er tat dann den Schritt, der ihm wohl seiner jüdischen Familie gegenüber wie Heroismus vorgekommen sein mochte. Ich besuchte seine Lotte später – 1916 – in Berlin; Gotthelf war irgendwo Kriegsleutnant, und sie zeigte mir stolz ihr Kind, die Frucht dieser Ehe. Jetzt hat sie ein braves konventionelles Trauerinserat in die Neuesten gesetzt, und ich habe Rößler um die Adresse gebeten, um ihr ein Wort der Teilnahme zu schreiben. So sinken sie allmählich alle dahin, die einen – sei es in dieser sei es in jener Runde – umstanden. Es wird Zeit, herauszukommen, um wenigstens die Reste zu sichten, ehe man selber beigesetzt wird.

 

Niederschönenfeld, Sonnabend, d. 3. Mai 1924

Abschrift. An Albert Winter jun. München. „N’feld, 3. Mai 24. Werter Genosse Winter! Darf ich Sie um Zusendung der Broschüre „Der Fall Auer“ bitten? Es wird Ihnen ja bekannt sein, daß ich dem Untersuchungsausschuß, der vor der Vereinigung Ihrer Parteien tagte, gewisse Verdachtsmomente mitteilte, die sich auf das gegen mich unternommene Attentat vom 26. Dezember 1918 und auf das geplante vom Februar 19 bezogen. Es liegt mir natürlich stark daran, diese Angelegenheiten so weit wie möglich aufzuklären, und ich will, sobald sich – früher oder später – die Festungstore wieder für mich geöffnet haben, meinerseits ernstlich dazu beitragen, die Gestalt des Herrn Auer – sei es als überführt in finsterster Schwärze, sei es, reingewaschen, in lichter Weiße – in der angemessenen Beleuchtung historisch zu fixieren. – Mein persönliches Interesse an Ihrer Schrift ist also wohl nicht zweifelhaft, und so denke ich, werden Sie der sachlichen Differenzen, die selbstverständlich auch zwischen uns bestehn, – wenn auch kaum in der Beurteilung Auers, – ungeachtet, meinen Wunsch nach einem Rezensionsexemplar erfüllen. Beste Grüße Ihres   Erich Mühsam“

 

Niederschönenfeld, Montag, d. 5. Mai 1924.

Leider kann ich noch immer nicht sagen: überstanden. Nachdem seit gestern abend die Besserung vorzüglich fortgeschritten war, – heute vormittag spürte ich kaum mehr etwas – ist grade im Augenblick mein Befinden garnicht recht erfreulich. Trotzdem hoffe ich, daß die Quälerei nicht wieder von vorn beginnen wird, aber die Unruhe und die Ungewißheit was diese peinigenden ruckweisen Störungen im Blutumlauf eigentlich bedeuten, sind recht scheußlich. Ich will mein altes Rezept anwenden: so gut es geht, die Krankheit ignorieren, Gesundheit simulieren. Ich hab es heute noch keinem meiner Freunde gestanden, daß ich schon wieder leide. Also zu andern Dingen. Gestern war die Reichstagswahl und zugleich die nachträgliche Landtagswahl und damit die endgiltige Fixierung der bayerischen Wahlen in der Pfalz. So gleichgültig die Zusammensetzung der Parlamente ist, so wichtig ist für uns doch die Tatsache, daß sie nun bald ihre Tagungen beginnen werden. Der Landtag in München muß laut Verfassungsbestimmung binnen 17 Tagen nach vollzogener Wahl zusammentreten, also allerspätestens am 21. Mai, wahrscheinlich also wohl Mitte des Monats. Daß die Völkischen, und wohl auch die Kommunisten die Amnestie sofort beantragen werden, ist gewiß. Vermutlich wird die Regierung, sobald sie konstituiert ist, von sich aus einen besonderen Gesetzentwurf einbringen. Wenn dann der übliche Klimbim, Büro- und Kommissionswahlen etc erledigt ist, werden die Vorlagen wohl einem Ausschuß übergeben werden, und bis sie ans Plenum zurückkommen, wird geraume Zeit vergehn, – je nachdem, wieviel Druck von außen hinter die Sache gesetzt wird. Da nun die Völkischen (Herr Esser) schon erklärt haben, die Abgeordneten müßten, bis Hitler befreit sei, jede parlamentarische Tätigkeit mit Pultdeckeln und Trillerpfeifen verhindern, so ist auf eine erhebliche Beschleunigung der Angelegenheit zu hoffen, und es ist nicht unmöglich, daß das Pfingstfest schon daheim begangen werden kann. Nur noch am Leben bleiben, Mühsam! Sonst ist’s gefehlt. – Arbeit wartet meiner draußen genug, und eine der Aufgaben, die ich noch zu erfüllen beabsichtige, ist die Teilnahme an den Entlarvungen des Auer-Vaters, die Albert Winter jun. jetzt mit der gestern erwähnten Broschüre wieder aktuell gemacht hat. Gern wüßte ich auch, ob nicht Herr Auer schon wieder herumspringt, um unsre Befreiung doch noch zu verhindern. Nach der Haltung der Münchner Post, auf die er ja entscheidenden Einfluß hat, muß man es meinen. Über keine Diskussionsrede, in der in München die Amnestie für uns verlangt wird, darf ein Wort gebracht werden. Die Sozialdemokraten in München selbst nehmen in ihren Versammlungen Resolutionen an gegen die Urteile in den Hitlerprozessen, in denen die Forderung der Amnestie erstaunlicherweise stets vergessen wird. Jetzt berichtet die „Post“ über eine Rede Schlaffers, der immerhin die Amnestie verlangt habe – für Hitler. Daß er selbstverständlich gesagt hat, daß man außer den proletarischen Gefangenen ruhig auch die nationalsozialistischen freilassen solle, dürfen Münchens Arbeiter nicht erfahren. Warum wohl nicht? Wenn wirklich die Amnestie im Landtag vorübergehn sollte, ohne uns einzubegreifen, dann weiß ich, wem wir’s zu danken hätten.

 

Niederschönenfeld, Mittwoch, d. 7. Januar[Mai] 1924

Vorgestern folgte den übeln Anzeichen, die ich schon erwähnte, gegen Abend ein sehr schwerer Rückfall, der mich veranlaßte, sofort noch einige schriftliche Verfügungen für alle Fälle zu treffen und meine Freunde davon zu unterrichten, wo sie zu finden seien. Ferner wurde Toller veranlaßt, an Schollenbruch und meinen Bruder Eilbriefe zu schreiben und sie um schleunigen Besuch zu bitten. Zenzl muß wieder eine ihre[r] seltsamen telepathischen Ahnungen gehabt haben. Denn abends gegen 9 Uhr traf ein Rückantworttelegramm von ihr ein, das ihre Sorge verriet. Es war schon am vormittag um 10 Uhr in Rain gestempelt, und die lange Verzögerung war eine der peinlichen Wirkungen des Abbaus, der N’feld zum Landbestellbezirk der Post gemacht hat. – Gestern – ich hatte mich Montag natürlich hinlegen müssen, stand aber gestern vormittag wieder auf – fühlte ich mich vollkommen erschöpft und kaput; heute ist’s etwas besser, aber noch keineswegs beruhigend. Nun wurde ich heute vormittag zum Vorstand hinuntergerufen, der mir berichtete: es sei soeben von Berlin aus telefoniert worden. Leider sei die Verständigung sehr schwer gewesen und er sage mir soviel wie eben zu verstehn war. Mit einiger Sicherheit sei die Anruferin meine Schwägerin Minna gewesen, und zu entnehmen war ihren Aeußerungen, ihr Mann sei verreist und die Frage, ob ein Professor, ein Herzspezialist statt seiner kommen solle. Auf die Frage, ob ich den Hausarzt konsultiere, hab er Nein geantwortet (Hierzu: gestern früh war Herr Oberwerkführer Fetsch bei mir, fragte, was mir fehle und ob ich nicht den Arzt wolle, der grade da sei. Ich lehnte selbstverständlich ab). Der Vorstand bezeichnete es als seine einzige Aufgabe, mir Mitteilung über die Telefonunterhaltung zu machen. Alles weitere müsse er mir überlassen. Ich erklärte, daß ich auf die Bestellung des Herzspezialisten keinen Wert lege, da es mir nur darauf ankomme, einen Arzt zu befragen, zu dem ich Vertrauen hätte, und das sei bei Schollenbruch der Fall. Meinen Bruder hätte ich gewünscht, weil ich bei meinem Zustand mit allen Eventualitäten rechnen müsse und deshalb mit einem Familienangehörigen, der dazu Arzt ist, reden wollte. Übrigens hätte ich auch nichts dagegen, mich vom Neuburger Landgerichtsarzt untersuchen zu lassen. Das schien Herrn Hoffmann zu überraschen. Er stellte mir anheim, einen entsprechenden Antrag zu stellen, doch müßte ich hinzusetzen, daß ich darauf aufmerksam gemacht sei, daß der Landgerichtsarzt kein Herzspezialist sei. Ich erwiderte, daß ich abwarten wolle, welche Antwort ich von Dr. Schollenbruch bekomme und daß die Untersuchung durch den Neuburger Arzt nur in Frage komme, wenn sie ohne Zuziehung des Anstaltsarztes erfolge. – Ich glaube, damit habe ich den Inhalt der Besprechung so ziemlich wiedergegeben. – Es gäbe wohl jetzt noch viel zu notieren: die Wahlen sind Gottseidank vorbei: die Zeitungslektüre wird also im politischen Affenspiegel ein klein wenig minder unappetitlich werden. Über den Ausfall vielleicht morgen ein kleines Orakeln. Ferner über den sehr interessanten Konflikt mit der Sowjetbotschaft wegen der Verletzung der Exterritorialität der Handelsdelegation in Berlin. – Aber ich muß an Zenzl schreiben und noch in den Hof gehn. Daher nur die Hausangelegenheit des Tages: ein weiterer Zugang, sodaß wir also wieder 22 Mann sind und sogar noch ein Genosse im Seitengang seine Schlafzelle räumen mußte. Jetzt haben schon 4 Genossen weniger Luftraum als nach den Vorschriften erlaubt ist. Der neue Mann heißt Wolfgang Hackl, kommt aus Straubing, von wo er mir wichtige Tatsachen über Lindtner und andre Freunde berichtet, und hat 6 Monate nachzuexerzieren. – Über die Aussichten, wann es für ihn und uns alle Schluß gibt, keine neuen Momente.

 

Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 8. Mai 1924

Abschrift: „An den Herrn Festungsvorstand. Herr Dr. Schollenbruch hat mir mitgeteilt, daß seine Zulassung und die Erlaubnis, mich als befreundeter Arzt zu untersuchen, vom Herrn Justizminister der Entscheidung des Herrn Festungsvorstands unterstellt werde. Es werde verlangt, daß ich mich zuvor krank melde und die Genehmigung erbitte, mich von einem nicht beamteten Arzt untersuchen zu lassen. – Hiermit erfülle ich diese Bedingung, melde mich krank und ersuche formell um Zulassung einer Untersuchung durch Herrn Dr. Schollenbruch, München. Herr Dr. Schollenbruch hat mich bereits in der Festungsanstalt Ansbach besucht und untersucht, ist mir überdies persönlich eng befreundet, und ich bringe ihm als Arzt das erdenklich stärkste Vertrauen entgegen. – Ich ersuche ferner um Zulassung einer ärztlichen Untersuchung durch meinen Bruder, Dr. Hans Mühsam, Berlin, sobald dieser von einer Auslandsreise zurückgekehrt sein wird. Mein Bruder hat mich im Jahre 1922 hier mit Erlaubnis des Herrn Vorstands eingehend untersucht, kennt also meine Konstitution ebenfalls. Mein Zustand legt mir im Interesse meiner Frau die Verpflichtung auf, für den Fall des tötlichen Verlaufs meiner Krankheit, den ich nicht für ausgeschlossen halte, mit meinem nächsten Verwandten, zumal dieser auch Arzt ist, die Schritte zu besprechen, die ich möglicherweise zur Verhütung meines Todes oder einer unheilbaren Verschlimmerung meines Leidens versuchen könnte. – Da, wie der Festungsverwaltung bekannt ist, eine Inanspruchnahme des Herrn Festungsarztes für mich aus unwiderstehlichen Gefühlsgründen unter keinen Umständen in Frage kommt, ich andrerseits den Wunsch habe, nach bester Möglichkeit jedes Hindernis, das der Zulassung meines Bruders und des Herrn Dr. Schollenbruch im Wege stehn könnte, beseitigen zu helfen und der Behörde die Gewißheit eines einwandfreien Befundes zu geben, beantrage ich zugleich, meine Untersuchung außer durch die beiden genannten Ärzte oder vorerst nur durch Herrn Dr. Schollenbruch, auch durch den Herrn Landgerichtsarzt von Neuburg baldmöglichst veranlassen zu wollen. – Als Ziel der beantragten ärztlichen Konsultationen nenne ich: Feststellung, ob die Zuziehung eines Spezialarztes für Herz- bzw. Blutumlaufs-Erkrankungen geboten erscheint und Begutachtung des Antrags auf meine Überführung in ein Krankenhaus oder Sanatorium auf eigne Kosten. Diesen Antrag will ich hiermit vorsorglich gestellt haben. N’feld 8. Mai 24 Erich Mühsam.

Diesen Brief habe ich soeben mit der Aufschrift „gefl. sofort zu übergeben“ dem Aufseher vom Dienst überreicht und will jetzt Schollenbruch selbst, der am Justizministerium (von Gürtner und Kühlewein persönlich) einigermaßen negativ beschieden wurde, seinen Eilbrief beantworten. Der Zumutung, die Befragung des Dr Steindl als Vorbedingung zu jedem weiteren Entgegenkommen zu vollziehen, lehne ich unter allen Umständen ab. Meine Freunde sind orientiert. Sterbe ich, ohne daß eine ärztliche Untersuchung erfolgt ist, so werden die Gründe nicht unbekannt bleiben. Daß aber jetzt auch Festungsgefangene als haftunfähig ins Sanatorium kommen können, ist ja durch den Fall Pöhner nun auch hierzulande präjudiziert. Wie mir Schollenbruch mitteilt, steht wahrscheinlich morgen Pestalozzas Besuch hier zu erwarten. Auch von dem erhoffe ich einigen Beistand in der Sache. Denn mir geht es immer noch garnicht gut. – Ich unterlasse wieder alle politischen Exkursionen, habe aber auch heute wieder eine Änderung im Festungspersonenbestand zu vermerken. Vor etwa 2 Stunden wurde plötzlich Stanglmeier entlassen, über dessen Persönlichkeit keinerlei weitschweifige Betrachtungen erforderlich sind, zumal es mir an Zeit gebricht. Gestern wurde mein Seppl prozessiert. Ich gebe mich nun der schwachen Hoffnung hin, die plötzliche Entfernung Stanglmeiers könnte aus der Notwendigkeit entstanden sein, Raum zu schaffen für meinen einzigen Jungen. Wenn er wirklich ums Zuchthaus herumgekommen wäre und ich hätte ihn hier wieder bei mir, – ich glaube, die Freude würde mich gesund machen.

 

Nachtrag: 4 Uhr. Eben wurde ich hinuntergerufen und mir das vor einer Stunde verfaßte Schreiben an den Vorstand mit 2 Fragen wieder vorgelegt. Die Antworten, die ich darauf schriftlich gab, lassen die Wiederholung der Fragen überflüssig erscheinen. Zu Punkt 1 schrieb ich in die Deklaration hinter den Absatz über die Zuziehung des Neuburger Arztes: „Die Kosten werden von mir aufgebracht.“ Zu Punkt 2 wurde ein eigner Zettel verlangt. Er lautete: „Die Inanspruchnahme des Herrn Medizinalrats Dr. Steindl lehne ich unbedingt und unwiderruflich ab. Unter den Begriff Inanspruchnahme rechne ich die körperliche Untersuchung ebenso wie die ärztliche Behandlung.“ – Nun wollen wir weitersehn.

 

Niederschönenfeld, Freitag, d. 9. Mai 1924

Obgleich täglich mehr Anlaß ist, endlich wieder einmal die politische Situation zu behandeln, will ich auch heute nur von den eignen Angelegenheiten schreiben. Die Krankheit, die sich solange sie sich ohne ärztliche Befragung entwickeln kann, jeden Augenblick auf ihre Henkerfähigkeiten besinnen kann, mahnt laut genug daran, daß das eigne Schicksal dem eignen Individuum nicht ganz gleichgültig sein kann. Heute mittag war nun also der Rechtsanwalt Graf Pestalozza tatsächlich hier, und konnte wirklich unbeaufsichtigt mit uns reden: das heißt mit uns Vieren, die ich ihm in meinem Einladungsbrief vom 4. April bezeichnet hatte: ego, Sauber, Olschewski und Sandtner. Das „Entgegenkommen“, das nach der Versicherung des Vorstands in der Erlaubnis lag, als unser Rechtsbeistand ohne Überwachung durch einen Wachtmeister mit uns zu reden, wurde dadurch wettgemacht, daß für jeden eine bestimmte Zeit von der Verwaltung festgesetzt wurde, über die hinaus unsre Beschwerden nicht verlängert werden durften. Ich hatte – als Antragsteller – die längste Redezeit: eine halbe Stunde! Unser Wunsch, dem Anwalt eine Tasse Tee vorsetzen zu dürfen, scheiterte daran, daß dieser Antrag nicht zuvor schriftlich eingereicht war. Der Herr Oberverwalter Rieblinger erklärte mir, daß die Bewilligung dieser Tasse Tee seine Befugnisse überschreite. Ich hab’s dem Grafen erzählt, und er lachte. Soviel vom Technischen des Besuchs. Inhaltlich: – ich will nicht jede Äußerung hinüber und herüber festlegen, weil der Zugriff in meine Effekten sonst die Verwaltung in den Stand setzen könnte, doch noch zu erfahren, was sie nicht mit anhören durfte. Was meinen Krankheitsfall betraf, so hat der Vorstand dem Anwalt gesagt, die Zulassung eines fremden Arztes sei abhängig von der Zustimmung des Anstaltsarztes. Dr. Steindl mache aber die Zustimmung abhängig von einer durch ihn vorgenommenen Untersuchung. Pestalozza hat darauf sofort geantwortet, wie er mich kenne, werde ich nicht durch das kaudinische Joch gehn. Da hat er recht. Ich habe die näheren Umstände beim Tode Hagemeisters nicht vergessen, auch nicht, daß Herr Dr. Steindl vor 2 Jahren, nachdem er den genauen Bericht meines Bruders erhalten hatte, mich untersuchte und nichts finden konnte, obwohl er 1 Jahr zuvor selber starke Herzvergrößerung konstatiert hatte. Ich weiß auch mancherlei antisemitische Aeußerungen des Herrn, die er Festungsgenossen gegenüber losließ. Dem mein Leben anvertrauen, – ich danke! Nun, ich werde ja Antwort auf meine Anträge erhalten müssen. – Unsre Hoffnungen teilt Pestalozza garnicht. Er hält die Völkischen in Bayern für stärker als je und die Bayerische Volkspartei für deren blindes Werkzeug – einfach aus Schwäche. Amnestie-Aussichten bestehn seiner Ansicht nach keine – wenigstens nicht von Bayern aus. Doch wird er die Schritte, zu denen ich ihn anregte, versuchen. Obwohl nicht viel Positives bei der Besprechung herauskam, auch von P. kaum große Hoffnungen erweckt wurden, war ich froh, nach so vielen Jahren überhaupt mal wieder einen Menschen von der Welt draußen ohne Aufsicht sprechen zu können. Es war ein wahres Fest für mich an diesem Tage, der ein Jubiläum etwas bitterer Art für mich ist. Ein Drittel meiner Gesamthaftzeit ist herum, und dem Urteil nach, habe ich von heute ab noch doppelt soviel Tage Gefangenschaft zu absolvieren wie ich vom 13. April 1919 bis heute absolviert habe (1853 + 3705)*. Fühlte ich mich gesundheitlich besser, dann wäre noch mehr Grund zur Freude. Der Seppl ist verhältnismäßig billig davongekommen: 8 Monate Gefängnis, von denen 2 auf die Untersuchungshaft gerechnet werden. Das halbe Jahr wird er, wie der terminus technicus unter alten Gefängnisfrequenten lautet, „auf einer Arschbacke“ absitzen. Seine Mitangeklagten, die noch billiger wegkamen, erschienen, wie mir Seppls Braut mitteilte, ohne eignen Anwalt, – im letzten Augenblick sollte ein vom Gericht bestellter Pflichtverteidiger eingreifen. Doch übernahm der Vertreter Pestalozzas, R.-A. Ludwig Hofmann, zugleich die Verteidigung des 2. Angeklagten und soll seine Sache großartig gemacht haben: da der Staatsanwalt für den armen Seppl 2 Jahre Zuchthaus beantragt hatte, muß es so sein. Aber ungeheuerlich ist, daß die Parteifreunde der Angeklagten in 2 Monaten nichts getan haben, um ihren bedrängten Genossen auch nur einen Anwalt zu bestellen. Freilich, – es fiel grade in die Wahlen; und die „Kommunisten“ haben ja einen großen „Wahlsieg“ errungen und ziehn mit 60 Abgeordneten in den Reichstag ein. Damit sind sie ganz erledigt. Denn im parlamentarischen Leben verpflichtet Quantität. Jetzt ist’s sogar auch mit ihrer dürftigen Demonstrationspolitik aus, mit der sie bisher dem Theaterbedürfnis ihres Anhangs noch gelegentlich imponieren konnten. Aber darüber und über den Parteischwindel in seinem neuen Zahlenverhältnis ein andres Mal. Viel wichtiger als dieser Humbug ist, daß im Ruhrzechengebiet der Generalstreik ausgebrochen ist. Zugleich streiken die Grubenarbeiter in Oberschlesien und in Mitteldeutschland. Da sind Hoffnungen, da sind Aussichten, und daß noch Kampfgeist im deutschen Proletariat steckt – trotz der infamen Verrätereien der Gewerkschaften – beweist der Dauerkampf bei den Badischen Anilin- und Sodawerken. – Eben erscheint Toller, um mich über den Pestalozza-Besuch zu interpellieren. Daher für heute Schluß.

 

* Nicht ganz richtig, da eine neue Rechnung im ganzen 5548 Tage ergab.

 

Niederschönenfeld, Sonntag, d. 11. Mai 1924.

Im Bett. Daher so kurz wie möglich nur das persönlich Tatsächliche. Mein Befinden war gestern sehr schlecht. Um die Abendbrotzeit (¾ 6) steigerte sich die Qual so, daß ich kaum ein paar Löffel Suppe herunterbrachte (obwohl es Metzelsuppe war, in dem ewigen fürchterlichen Einerlei unsrer derzeitigen Verköstigung, die saftlos, kraftlos, abwechslungslos nachgrade jeden anekelt, eine kleine Erholung). Ich schlich in meine Zelle, ging zu Bett und wunderte mich, daß ich überhaupt noch lebendig bis dahin gelangt war. Das Gefühl unmittelbar bevorstehender Auflösung war aber so stark gewesen wie noch nie und ich diktierte deshalb dem Zäuner Sepp einen Schrieb an die Verwaltung, des Inhalts, daß sich mein Zustand derart verschlimmert habe, daß ich die Zuziehung ärztlichen Beistands für unaufschiebbar halte, allerdings nach wie vor Herrn Dr Steindl ablehnen müsse. Um aber nicht in den Verdacht zu kommen, etwa aus Eigensinn Selbstmord zu begehn, wiederholte ich die Gründe, die mich fürchten ließen, grade durch die Aufregung, mit der für mich die Bemühung Dr. Steindls verbunden sein müsse, zu sterben. Ich erklärte bündig, daß ich mich einer Untersuchung durch ihn nicht gewachsen fühle, stellte seine negative Diagnose nach der Untersuchung durch Hans fest, in der ich den Vorwurf der Simulation gegen mich und der Vorschubleistung gegen meinen Bruder erblickte, erinnerte an sein Verhalten bei Hagemeisters Krankheit und betonte, daß er Antisemit sei und diese Gesinnung Festungsgefangenen gegenüber zum Ausdruck gebracht habe. Ich aber sei Jude. Endlich erklärte ich, mich jedem von der Verwaltung beigezogenen Arzt zur Untersuchung zur Verfügung zu halten mit der einzigen Ausnahme des Medizinalrats Steindl und ersuchte um Konsultation des Landgerichtsarztes von Neuburg für heute (Sonntag). Ich hatte starke Zweifel, ob man von dem Prinzip abweichen werde, obwohl ich geschrieben hatte: vor die Alternative gestellt, den Medizinalrat Steindl zu befragen oder dem wahrscheinlichen Tode entgegenzugehn, müßte ich mich für die zweite Eventualität entscheiden. So schrieb ich einen Abschiedsbrief an Zenzl, verstaute ihn da, wo schon meine übrigen Aufzeichnungen für den äußersten Fall liegen – meine Freunde kennen das Buch, in dem sie alles finden, – und wurde dann gegen 8 Uhr durch den Eintritt eines mir bis dahin unbekannten Sanitäters mit dem Wachtmeister Krebs überrascht. Der Sanitäter, den ich in meiner Schwerhörigkeit zuerst für einen Arzt gehalten hatte, nahm Temperatur und Puls auf, – ich bin übrigens dauernd fieberfrei und der Puls geht normal, wenn nicht zu langsam –, erklärte, daß er ständig zu meiner Verfügung bleibe und ging, da ich sein Anerbieten, bei mir Wache zu halten, abgelehnt hatte. Als um ¾ 10 Uhr Schluß gerufen wurde, kam aber plötzlich weiterer Besuch. Der Regierungsrat Badum erschien mit einem Herrn in den 50ern und stellte ihn mir als Dr Jarresdorffer aus Rain vor. Nachdem ich mich auf dessen Frage bereit erklärt hatte, mich von ihm untersuchen zu lassen, betrat auch Herr Oberregierungsrat Hoffmann meine Zelle, und nun begann ein Hin und Her von Fragen, die ich natürlich alle vollkommen aufrichtig ausführlich beantwortete. Die körperliche Untersuchung beschränkte sich auf Pulsfühlen (72), Abklopfen und Rückenmarkprobe durch Knieschlag. Der Arzt kam zu dem merkwürdigen Resultat, daß meine Krankheit die Folge übertriebenen Kaffeegenusses sei, also einfach eine Coffëinvergiftung. Vorerst wurde abgemacht, daß ich von jetzt ab täglich statt 3 nur 1 Tasse Kaffee täglich trinken und das Rauchen womöglich ganz einstellen soll. Eine lebensbedrohliche Erkrankung bestreitet der Arzt mit aller Entschiedenheit. – Aus der Unterhaltung an meinem Bett ein paar Einzelheiten. Der Arzt begann mit Versuchen, mich zur Inanspruchnahme des Dr. Steindl zu überreden. Der Vorstand berichtete dabei ganz aufgeregt über die Hartnäckigkeit und die Konsequenz, mit der ich auf meiner Weigerung beharre, erzählte dabei einen Vorfall, den mir mein Bruder vor etwa einem halben Jahre aus dem Felde berichtet hatte, wo er einem Leutnant gegenüber in einer ähnlichen Lage gewesen sei wie Dr Steindl mir gegenüber, und daß der Standpunkt Dr Steindls von ihm wie jetzt auch von Schollenbruch als prinzipiell berechtigt anerkannt werde. Ich erklärte, es müsse doch wohl ein Minimum von Vertrauen des Patienten zum Arzt da sein, was Dr. Jarresdorfer mit den Worten bestätigte: „Das ist allerdings Voraussetzung!“ Als er hinzufügte, er selbst lehne es ab, jemanden zu behandeln, der ihm kein Vertrauen entgegenbringe, meinte ich: „Ich begreife Herrn Dr Steindl nicht, daß er, obwohl er meine Weigerung kennt, darauf besteht, mich zu untersuchen.“ Hier unterbrach der Vorstand: „Das führt zu weit!“ – Sehr bezeichnend für alle Beteiligten war folgendes Intermezzo. Ich erwiderte dem Arzt bei seinen weitläufigen Belehrungen über mein Verhalten, er möge doch nicht vergessen, daß ich im 6. Jahr eingesperrt bin und hier nicht ganz so leben kann wie daheim. Der Mann – eine typische Provinzfigur, die sich als Arzt dazu berufen glaubt, auf jeden Patienten erziehlich einzuwirken, stellte sich in Positur und meinte: „Ich will ja hier keine Politik treiben. Aber – jeder ist seines Glückes Schmi[e]d.“ Ich mußte das Lachen verbeißen, antwortete aber: „Freilich, – unter andern auch die Herren in Landsberg.“ Da fuhr der Oberregierungsrat dazwischen, ganz Würde, ganz Vorstand und Autorität: „Herr Mühsam, das kann ich nicht dulden. Das ist ein Mißbrauch der ärztlichen Konsultation.“ – Ich entgegnete: „Ich hatte nicht die Absicht, auf das politische Gebiet zu kommen. Ich habe von der Haft gesprochen, um vom Herrn Doktor zu hören, ob er nicht etwa die Überführung in ein Krankenhaus für nötig hält.“ – „Ja, ich weiß, – darauf gehn Sie aus“, rief Herr Hoffmann, und da ich darin den versteckten Vorwurf, als triebe ich bloß Politik mit meiner Krankheit, heraushörte, nahm ich das Wort auf und sagte: „Darauf gehe ich allerdings aus. Denn ich glaube nicht, daß die Festung der geeignete Ort ist, um meine Krankheit zu heilen.“ Ich fügte hinzu, daß meine darauf bezüglichen Anträge alle weiter bestehn bleiben. Wieder wurde Herr Hoffmann spitzig und fand es sonderbar, daß alle meine Wünsche bestehn bleiben sollen, während ich in der Frage des Arztes nicht im geringsten entgegenkäme. Nachdem der Arzt noch meinen Urin auf Eiweiß kontrolliert hatte, – natürlich negativ – ließen die Herren mich um ½ 11 Uhr allein. Doch hat, wie ich heute erfuhr, der neue Sanitäter die ganze Nacht im Aufseherzimmer unsres Stockwerks zugebracht. – Die Behandlung der Sache, die wie ein Brief meiner Schwägerin Minna verrät, auch schon in die Presse gedrungen ist, zeigt mir, daß man einen zweiten Fall Hagemeister tatsächlich nicht will. Und so habe ich Hoffnung, daß, falls die Freiheit für uns alle wirklich immer noch nicht komme soll, doch wenigstens erreicht wird, daß meiner Überführung in ein Krankenhaus kein Widerstand länger entgegengesetzt wird. Ich habe das Gefühl, sehr krank und bestimmt haftunfähig zu sein. Bleibt die Entscheidung darüber in den Händen des Dr. Steindl, so weiß ich gewiß, daß der Jude hier bleiben muß. Überdies ist wahr, was ich gestern erklärt habe, daß die Untersuchung durch diesen Herrn mir eine Aufregung zumuten würde, der ich mich nicht gewachsen fühle. Da doch anzunehmen ist, daß im Falle der Weigerung der Behörde, draußen in den Zeitungen und Versammlungen Vergleiche gezogen werden mit der Behandlung der Herren Pöhner u. s. w., die schon von der Untersuchung aus in ein Sanatorium durften, und sicherlich weniger krank sind als ich, dann wird das wohl doch nicht ganz ohne Eindruck bleiben. – Zur Hauschronik, – da mir die Schreiberei zu anstrengend ist, um zur Weltgeschichte übergehn zu können, ist die Entlassung des Genossen Wielenbacher zu notieren, der treu gedient hat seine Zeit, nämlich 6 Monate und davon 3 hier. Der erste vom letzten Prozeß (Flora), ders überstanden hat. Ein sehr netter, einfacher, gesund empfindender Proletarier, immer freundlich und gut aufgelegt und kein Sprüchklopfer. So sind wir also wieder 20 Mann, – wie lange? Bald muß Sepp Fürbacher seine 4 Jahre Zuchthaus hinter sich haben. Auf den freue ich mich.

 

Niederschönenfeld, Mittwoch, d. 14. Mai 1924

Mit meiner Genesung will es nicht vorwärtsgehn. Ich bin unausgesetzt in anormaler Körperverfassung, die sich ständig wechselnd und fast nie genau bestimmbar äußert: augenblicklich ein Gefühl leichten Vibrier[er]ens der ganzen Rumpfhaut, bald ein Druck in der Herzgegend, bald ein bloßes Gefühl der Leere oder des Schwankens, und das völlige Fehlen eines lokalen Schmerzes ist quälender als wenn ich die scheußlichsten wirklichen Schmerzen hätte. – Der Dr. Jarresdorffer hat seit seinem einmaligen Besuch nichts wieder von sich verlauten lassen, die Verwaltung hat mir auf meine verschiedenen Anträge, Zulassung von Dr Schollenbruch und Hans und Überführung in ein Krankenhaus noch keinerlei Bescheid zukommen lassen, und so bin ich wieder genau so auf mich allein angewiesen wie zuvor auch. Da ich ein wenig den Verdacht habe, daß mein gegenwärtiger Zustand vielleicht als Abstinenzerscheinung durch die vollkommene Nikotinenthaltsamkeit seit 1½ Wochen gedeutet werden könnte, will ich es morgen mal wieder mit einer Zigarre versuchen. Jedenfalls bin ich momentan wohl in der übelsten Situation meines Lebens. Ich glaube bestimmt, daß die Ablehnung meiner Krankenhausbehandlung gleichbedeutend wäre mit meinem Todesurteil, und wenn Pestalozza recht hat und unsre Amnestieträume wieder Hirngespinste waren, so habe ich wohl den Bilanzstrich unter dieses Dasein endgiltig zu ziehn, was ich Zenzl wahrhaftig gern ersparen würde. – Für Pestalozzas Auffassung spricht eine Nachricht, die vom „Wahlkampf“ in München zu uns gedrungen ist. Es fanden 9 große Gewerkschaftsversammlungen statt. In allen wurde von den Kommunisten eine Entschließung eingebracht, worin die Freilassung der politischen Gefangenen gefordert wurde. Diese Resolutionen wurden fast in allen Versammlungen von den sozialdemokratischen Leitern abgewürgt, d. h. garnicht zur Abstimmung gebracht. Das zeigt, daß der Drang nach Rache bei Auer und den Seinen noch lange nicht gestillt ist. Sicher tun die Sozi alles, um etwa bestehende Absichten, uns zu amnestieren, noch im Keimzustand umzubringen. Könnte man doch dem deutschen Proletariat endlich begreiflich machen, was für ein Gesindel es führt. Bis jetzt scheint da jede Hoffnung vergeblich, und der Ausfall der Wahlen: die beiden stärksten Parteien: Sozialdemokraten und Deutschnationale mit je 100 Mandaten zeigt den Grad der politischen Reife dieses unglücklichen Volks. Der Einbruch der Berliner Polizei unter der Direktion der Sozialdemokraten Richter und unter der persönlichen Führung des Sozialdemokraten(?) Weiß in das Handelsdelegationsgebäude der Sowjetregierung wird stillschweigend hingenommen. Den Vorwand gab die Flucht eines Kommunisten in das Gebäude während eines Transports. Aber wie man den Mann suchte, ergibt sich daraus, daß man die Schränke und Pulte erbrach, – angeblich, um nach illegalen Verbindungen mit der KP zu suchen, in Wirklichkeit selbstverständlich, um das russische Außenhandelsmonopol mit seinen Geschäftsverbindungen, -abschlüssen etc. auszuspionieren. Die Abreise Krestinskis nach Moskau, die Schließung sämtlicher Filialen der Delegation in Deutschland, die Sperre aller Abschlüsse mit Deutschland, die Kündigung der Verträge, die Androhung von Repressalien aller Art sollte den deutschen Sozialspitzeln zeigen, wessen Geschäfte sie diesmal getrieben haben. Sie wissen’s auch wohl so und tun es doch. – In Halle gab es aus Anlaß des Riesenaufmarsches der Generäle, Nationalisten und Reaktionäre aller Schattierungen zur Neuenthüllung des am 1. Januar umgestoßenen Moltkedenkmals Demonstrationen der Kommunisten. Die Sozialdemokraten Severing und Hörsing ließen hineinknallen, – natürlich nur in die Arbeitermassen, nicht etwa in die Hitler- und Ehrhardtbilder tragenden Hakenkreuzler. Die Sozi haben die geistvolle Parole ausgegeben: laßt euch nicht provozieren, – kein Arbeiter lasse sich auf der Straße blicken. Ach, ich sah gestern im Hof diesen kleinen Vorgang. Ein Turmfalke erschien und in der Luft oben gab es arge Aufregung. Stare und Spatzen schrieen und flatterten durcheinander und suchten das Weite. Die Schwalben aber flogen von allen Seiten herbei, formierten sich und drängten sich aneinander. Diese Tierchen wußten, daß das Verkriechen nur dazu führen müsse, daß sich der Feind ungefährdet auf Einzelne stürzen könnte. (Die Schwalben! Wieder haben die Tierchen in unsern Zellen Zuflucht gesucht und beim Enzinger angebaut. Das Nest war fast fertig, da ließ es die Festungsverwaltung zerstören. Die armen Vögel flogen so trübselig herum, berieten zwitschernd miteinander ihr Unglück, – und fangen nun in derselben Zelle wieder das Bauen an, daß das Weibchen doch ihre Eier hinlegen kann. Sie wissen es nicht, daß sie trostlos und unglücklich werden müssen, weil sonst politische Gefangene in Bayern, die nicht aufs Hakenkreuz schwören, eine Herzensfreude hätten, – und die darf natürlich nicht sein). – Aber ich war bei den Sozialdemokraten, über die man ja immer reden kann, wenn es über Politik zu reden gibt. Der Mannheimer Riesenstreik ist beendet, – nach 10 Wochen hartnäckigsten Kampfes verloren, – nein verraten von Partei- und Gewerkschaftsbonzen. Nun aber ist der ungeheure Streik im Ruhrgebiet ausgebrochen, der Generalstreik der Kohlenarbeiter, der darum sehr aussichtsvoll scheint, weil zugleich auch die Kohlengruben in Oberschlesien und Sachsen bestreikt werden. Es geht um die Rettung des 8-Stundentags oder doch des Scheins, als ob ein Prinzip des 8-Stundentags noch bestehe. Die Zechenherren führen den größten Schlag gegen die Arbeiterschaft, den sie bisher geführt haben. Der Streik steht unter Leitung der Kommunisten und Syndikalisten, die ihn gegen den Willen der Gewerkschaften durchgesetzt haben. Jetzt aber haben die Gewerkschaften die Leitung übernommen und ich bin sehr besorgt deswegen. Die Sozialdemokraten möchten wieder regierungsfähig werden, mit einem großen Sieg über das Proletariat können sie die Bourgeoisie vielleicht noch einmal für sich gnädig stimmen. – Sie sind’s auch, die am lautesten die Annahme der Dawes-Gutachten empfehlen, und die Tatsache, daß die Großindustrie, die Bayerische Volkspartei, ja sogar jetzt auch die Deutschnationalen die Annahme befürworten, macht sie nicht stutzig. Jetzt sind sie auf die ganz schlaue Idee verfallen, ein Plebiszit über Annahme und Ablehnung zu veranstalten, wie sich[sie] auch den 8Stundentag für die Arbeiter nicht durch Kampf sondern durch Plebiszit retten möchten. Die Annahme dieser Abstimmung verpflichtet ja zu nichts: hat doch Herr Leipart erst kürzlich selbst erklärt, daß wir in Deutschland den 8Stundentag „grundsätzlich“ noch haben. Also ein Betrug über den andern. – Bei der ersten verständigen Abstimmung aber schreien die Sozi – und die Kommunisten vermutlich ebenso – im Bunde mit Reichs- und Preußenregierung, mit Deutschnationalen und Patrioten aller Schattierungen: nein, niemals! Die Hannoveraner möchten nämlich von Preußen los. Was da jetzt von der Reichsregierung angefangen und in besonderem Maße von der durch Noske als Oberpräsidenten repräsentierten Preußenregierung geleistet wird, um das Land, das Bismarck 1866 aus Hohenzollernschen Hausinteressen verschluckte, unter dem preußischen Druck zu bewahren, ist nicht zu glauben. Aber für die Marxisten aller Schattierungen gibt es keine höhere Weisheit als die, daß, was einmal preußischen Magen steckt, nie wieder daraus entfernt werden darf. Sie sind hoffnungslos borniert, diese Zentralisten aller Sorten. Was die Föderalisten anlangt, so sind sie allerdings, soweit sie in bayerischer Eigenart in Erscheinung treten, kaum besonders viel klüger. Die Wahlen sind vorüber. In Bayern wird infolgedessen der entkahrte Kahrzustand vollständig wieder hergestellt. Oben füllen sich die Räume mit Schutzhaftgefangenen, und auch bei uns ist wieder ein schärferer Wind bemerkbar. Besonders wird wieder eifrig Post konfisziert. Ich wurde allein heute mit einem Buch von Rühle und einem Brief von ihm (mit „umsturzpolitisch-agitatorischem“ Inhalt) und einer Postkarte von meinem Bruder Hans von Italien (Taormina) betroffen, die die Ordnung des Hauses störe. Es wurde mir aber dabei versichert, daß nur noch ein Gruß dabei war, sonst weder von meiner Krankheit noch von den Reiseabsichten meines Bruders die Rede sei. Toller bekam 3 Tage Hofentzug, weil er sich beim Gang vom Hof ins Haus nicht seine Jacke über das Schillerhemd gezogen hatte. – Abendbrotzeit, und dann will ich mich lieber wieder bald hinlegen.

 

Niederschönenfeld, Sonnabend, d. 17. Mai 1924

Fast so plötzlich, wie die Erkrankung heute vor 3 Wochen anfing, ist sie, wie ich wenigstens hoffe, seit vorgestern wieder behoben. Am Donnerstag war nur noch ein allgemeines Gefühl des Unbehagens spürbar, gestern und heute kaum mehr leichte Nachwirkungen. Inzwischen ist aber allerlei Überraschendes in der Sache geschehn, was der späteren Kontrolle wegen registriert werden muß. Als ich gestern bei der verminderten Portion Kaffee meine einzige tägliche Zigarre rauchte –, die mir schon am Donnerstag äußerst wohl tat –, wurde ich gerufen. Ein fremder Herr begrüßte mich im Rapportzimmer, bei ihm befand sich der Sanitätswerkmeister Bastian. Der Herr stellte sich vor, und ich verstand soviel, daß es der Landgerichtsarzt von Neuburg war. Er habe den Auftrag mich zu untersuchen. Zunächst wurde ein genauer Personal- und Krankheitsbericht erfragt und schriftlich aufgenommen. Dann begann die Untersuchung, die mit großer Sachlichkeit und Sorgfalt geschah: auf Herz, Lungen, Nieren, Nerven, sogar Größe und Gewicht wurde festgestellt (wobei ich durch die Feststellung überrascht wurde, eine Zunahme von 2½ Kilo seit der letzten Wiegung – jetzt 61½ Kilo statt 59 Kilo vor etwa 1½ Jahren – konstatiert zu sehn; allerdings war es kurz nach dem Essen und kurz vor dem Stuhlgang). Der Arzt machte einen recht guten Eindruck auf mich. Sein Bestreben, einen ganz objektiven Befund zu schaffen, war deutlich zu spüren, sein Benehmen war höflich und korrekt und frei von der philiströsen Wichtigkeit, die der Rainer Doktor zur Schau trug. Zum Schluß bat ich den Herrn noch einmal um Namen und Adresse, um die Verbindung mit meinem Bruder herbeizuführen: Landgerichtsarzt Dr. Aumüller von Neuburg a/D. Meine Frage, was ich meiner Frau berichten könne, beantwortete er mit der bestimmten Versicherung, augenblicklich bestehe keinerlei Lebensgefahr. Über seine Feststellungen im allgemeinen äußerte sich der Arzt nicht, sondern erklärte, er werde darüber dem Vorstand Bericht geben. Ich ließ mir noch Verhaltungsmaßregeln geben: Einschränkung – nicht Verzicht – des Zigarren- und Kaffeeverbrauchs, im Falle neuer Zufälle Niederlegen. Der Arzt verabschiedete sich mit Händedruck. Ich war in der Tat sehr beruhigt durch diese Konsultation, zumal Herr Dr. Steindl nun ganz ausgeschaltet war. Herr Dr. Aumüller fragte mich zwar beiläufig, warum ich den Anstaltsarzt ablehne, erklärte aber selbst, nicht in mich drängen zu wollen, und die Anwesenheit des Herrn Bastian veranlaßte mich auch zur größten Zurückhaltung über meine Gründe. – Heute vormittag benachrichtigte mich Herr Rieblinger, daß der Herr Oberregierungsrat mich zu sprechen wünsche. Ich vermutete, daß ich befragt werden sollte, welche Anträge ich nun zu stellen wünsche und nahm mir vor, Strafunterbrechung für eine Krankenhausbehandlung zur Abstellung der Ursachen derartiger Anfälle zu beantragen. Die Unterredung hatte aber andre Gründe. Zunächst teilte mir Hoffmann mit, daß Zenzl sich für Montag zum Besuch angemeldet habe, der selbstverständlich genehmigt werde. Ferner habe er zu eröffnen: Die Besuche der Herren Drs. Jarresdorffer und Aumüller seien auf Amtskosten erfolgt. Beide Herren seien zu gleichen Ergebnissen gekommen, nämlich daß mein Zustand nicht gefährlich sei. Jedoch werde mir zur vollkommenen Beruhigung freigestellt, nun auch noch – und zwar auf eigne Kosten – einen Arzt meines persönlichen Vertrauens kommen zu lassen, mit der Einschränkung, daß dessen Untersuchung im Beisein des Neuburger Landgerichtsarztes stattzufinden habe. Welchen Arzt ich wählen wolle, stehe in meinem Belieben, doch rieten mir die beiden Ärzte, einen Spezialisten (Internisten: für Herz- und Blutumlauferkrankungen) zu nehmen, wobei Herr Dr. Aumüller den Augsburger Professor Port oder den Münchner Universitätsprofessor Böhm empfehle; der betreffende Arzt solle dann einen Blutdruckapparat mitbringen. Ich erklärte, daß es sich mir weniger um meine als um Zenzls Beruhigung handle, und daß ich infolgedessen die Entscheidung bis zu ihrem Besuch zurückstellen möchte. Falls sie lieber Schollenbruchs Befragung wolle, so würde ich diesen vorziehn. Dies wurde völlig in mein eignes Belieben gestellt. Von Herrn Dr. Steindl war mit keinem Wort die Rede. – Soweit sind die Dinge also bis jetzt gediehen. Ob schließlich doch noch eine klinische Behandlung in Frage kommt, steht dahin und wird vielleicht von dem Gutachten des Privatarztes abhängen. Vielleicht kommt ja bis zu der Ärztekonferenz noch erst die Amnestie, und sicher wäre mein Heim und Zenzls Bett ein besseres Sanatorium für mich als sonst in der Welt eins zu finden wäre. Über die Chancen der Amnestie läßt sich im Augenblick wenig sagen. Wahrscheinlich fällt die Entscheidung über unser Schicksal heute, da heute Partei-Vorstand und -Ausschuß der Bayerischen Volkspartei zur Beratung über die Richtlinien des neuen bayerischen Regierungskurses zusammentritt. Es steht wohl ganz fest, daß die Frage der Amnestie dabei ventiliert wird. Denn in den Presseorganen der Partei, die ja absolut ausschlaggebend ist, war in der letzten Woche übereinstimmend das Verlangen ausgesprochen, die erste Aufgabe der neuen Regierung (deren Vorsitz anscheinend von dem Richtungsstreit zwischen Knilling und Schweyer abhängt), müsse – nach der Augsburger Postzeitung „die Liquidierung des Hitlerputsches und des Hitlerprozesses ohne Ranküne und ohne falsche Sentimentalitäten“ sein. Was darunter verstanden wird, ist natürlich Parteigeheimnis, daß aber mit der Jurisdiktion, wie sie das „Volksgericht“ bis in die letzten Tage – in dieser Woche fand der letzte Prozeß in der Hitlersache statt, mit dem die Institution der Volksgerichte ihre ruhmreiche Laufbahn abschloß (ein Herr Dresse, der die Minister verhaftet und verschleppt hatte, wurde zu 1½ Jahren Landsberg mit Bewährungsfrist nach 3 Monaten „verurteilt“) – gründlich und endgiltig aufgeräumt werden müsse. Qui vivra verra. Ich bin angesichts der offenkundigen Feindseligkeit der Sozialdemokratie gegen unsre Freilassung sehr skeptisch, vertraue aber bestimmt auf die Amnestie vom Reich aus, die dann allerdings wohl ein paar Monate auf sich warten lassen wird, und keinesfalls vor Beendigung des großen Ruhrstreiks zu erwarten sein wird. Heute keine weiteren politischen Exkursionen. Es ist eine neue Entlassung zu notieren. Gestern früh wurde unser Ludwig Schönbrunner in Freiheit gesetzt. Wieder einer, der nach einer verpatzten Bewährungsfrist mit 3 Monaten neuem Nachlaß zum zweiten Mal herauskam. Schönbrunner verdiente ein Kapitel für sich. Mit dem möchte ich durchs Land reisen, um der Welt zu zeigen, was für „Hochverräter“ die bayerische Ordnungszelle als politische Verbrecher bestraft, die zugleich die Herren Frick und Konsorten vom ersten Tag ab auf Bewährungsfrist frei laufen läßt. Schon äußerlich ist Schönbrunner eine der komischsten Erscheinungen, die ich je gesehn habe. Keine Karrikatur eines „G’scherten“ vom Filser-Typus erreicht den Gesichtsausdruck dieses kleinbäuerlichen Taglöhners, der sich hier in der Rolle gefiel, den Festungsteppen zu machen. Ein offenbar etwas imbeziller Bursche, kindisch verspielt, unfähig, irgend einen Gedanken konsequent zu überlegen, harmlos, von etwas schwachsinniger Fröhlichkeit, dabei diebisch – daher seine Gefängniszeiten – und über alles Maß putzig. Ich hatte den kleinen Kerl mit seinen grotesken Bewegungen und seinem andauernden lärmenden Gelächter wirklich gern. Seine Lächerlichkeit geht nicht auf die Nerven sondern wirkt unwiderstehlich lachreizend. Aber 1 volles Jahr hat dieses Unikum, dessen Verstand nicht über das Mistaufladen in seinem Dorfhof reicht, wegen „Hochverrats“ absitzen müssen, und wer weiß, ob nicht seine kleine Lust am Stehlen, von der er selbst mit der größten Aufrichtigkeit und ungeheuer belustigt spricht – ihn bald genug zur völligen Absitzung seiner „politischen“ Strafe wieder herführt. Nun, der Mann macht sich deswegen keine Sorgen. Er hat nicht unter der Einsperrung hier gelitten, sie war ihm eine Erholung wie ein Kuraufenthalt. – Wichtiger ist, daß Hornung mit seinen 10 Jahren die Bewährungsfrist zum 3. Juni bewilligt erhalten hat. Darüber und über unsern phantasievollsten Haftgenossen allgemein, wenn der Nekrolog für ihn fällig wird. – Einen Nekrolog im eigentlichen Sinne hätte ich eigentlich dem französischen Pazifisten d’Estournelle de Constant zu widmen, dessen Tod aus Paris gemeldet wird. Dieselben Blätter, die bei uns Quidde wie den letzten Schweinehund im Dreck herumtreten, begreinen seinen französischen Gesinnungsfreund als die edle Ausnahme unter den welschen Sadisten. Es ist zu widerlich, sich dabei aufzuhalten. Mich persönlich bewegt auch mehr die Nachricht, daß der alte Emanuel Reicher mit 75 Jahren gestorben ist. Ein Prachtkerl von einem Schauspieler und ein liebenswürdiger Mensch – trotz seines Wahns, die Weltbefreiung durch Esperanto fördern zu können. Ich hatte darüber mal eine sehr amüsante Kontroverse mit ihm im Café Monopol in Berlin. So schwinden sie alle dahin – einer nach dem andern, und was übrig bleibt, ist größtenteils Ausschuß.

 

Niederschönenfeld, Dienstag, 20. Mai 1924.

Zenzls Besuch ist wieder einmal vorüber, und immer dringender wird das Verlangen, endlich in Formen beisammen sein zu können, die nicht mehr die Erquickung des Wiedersehns so scheußlich vergiften wie hier. Die Abstreifung, die das letzte Mal unterblieben war, fand wieder statt, eine ganz sinnlose Zeremonie, deren einziger Zweck unsre Entwürdigung und Degradierung ist. Es zeigt sich demnach, daß die einzige fühlbare Änderung, die die Einführung der neuen „einheitlichen“ Hausordnung mit sich gebracht hat, das Schnapsverbot ist. Ob Hitler auch keinen Schnaps kriegt, ob Kriebel und Weber auch ihre Frauen keine Sekunde unter 4 Augen sehn dürfen? – Die Aufsicht war erstaunlich anständig (Krebs). Unser Gespräch wurde kein Mal unterbrochen. Aber man kann sich ja nicht aussprechen. Man nimmt Rücksicht auf den Zuhörer, man will außerdem in den paar Stunden alles loswerden, was man auf dem Herzen hat, und springt infolgedessen fortwährend vom Thema ab, um einer neuen Assoziation nachzuhüpfen. So wird nichts richtig durchgesprochen. Recht viel Neues habe ich diesmal nicht erfahren. Meine Krankheit, das Häusliche, die Geschäfte, hier und da eine Abschweifung ins politisch Aktuelle: die Amnestiehoffnungen natürlich. Zenzls Meinung ist, daß der Reichstag unsre Befreiung beschließen wird, auf den Landtag setzt sie scheinbar sehr wenig Vertrauen. Sie ist nun nach München weitergefahren, und ich bat sie, das Justizministerium aufzusuchen und den Herren Gürtner und Kühlewein zu sagen: für diesmal habe ich anscheinend wieder einmal die Krankheit besiegt und hoffe, eine Weile Ruhe zu haben. Da ich aber nicht weiß, ob nicht nach einiger Zeit ein neuer Anfall kommt und mich ganz plötzlich niederstreckt, kann ich nur dann auf eine Krankenhauskur verzichten, wenn die Herren dafür garantieren können, daß die Peinigung der Festungshaft im Laufe dieses Jahres ohnehin zu Ende geht. Können sie das nicht, so halte ich meine Überführung in ein Krankenhaus zur Wiederherstellung meiner Widerstandsfähigkeit für unumgänglich. Ferner will Zenzl den Augsburger Professor Port aufsuchen, und ich hoffe, daß sein Rendezvous mit dem Landgerichtsarzt dann recht bald stattfinden kann. Dann werde ich den beiden Ärzten dasselbe plausibel zu machen suchen. Wie mir Zenzl erzählte, haben sich etliche linke Zeitungen mit meiner Krankheit beschäftigt, und das wird wohl das plötzliche Entgegenkommen in der Arztfrage bewirkt haben. Auf der Rückreise, voraussichtlich nächsten Montag, wird Zenzl wieder herkommen, gebe Gott, daß das nächste Wiedersehn dann unter erfreulicheren Umständen sein wird. Wie die bayerischen Regierungschristen diese willkürliche, von keinem Gesetz erlaubte oder gar geforderte, nur für die ihnen unsympathische politische Richtung verhängte Auseinanderreißung Liebender vor sich und ihrem Gott verantworten, das wird mir ewig rätselhaft bleiben. Was haben die Menschen aus der Christenreligion der Liebe gemacht, daß man um der puren Rache willen sogar die Ehe des „Nächsten“, die diese Leute selbst als heiligstes Sakrament ausgeben, ohne auch nur die Form eines Rechtsspruches dafür in Anspruch nehmen zu können, auflösen! – Aber diese Mentalität wird uns Nichtfrommen wohl immer verschlossen bleiben. Sie ist ein Privileg der allereifrigsten Kirchgänger und Kirchendiener.

 

Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 22. Mai 1924

10¼ Uhr vormittag. Ich bin extra 1 Stunde früher vom Hof heraufgekommen, um in der Reihe zu bleiben. Denn heute früh wurde mir mitgeteilt, daß heut nachmittag meine Zellenreinigung an die Reihe kommt, bzw. nachgeholt wird, da sie diesen Monat wegen meiner Krankheit unterblieben ist. Diese Reinigungswut seit einiger Zeit ist auch etwas, was an die Nerven geht und den Büchern überdies sehr schlecht bekommt. Aber zur Sache. Vorgestern erhielt Toller ein Telegramm des Inhalts, daß Hans in München sei, offenbar also auf der Rückreise von Neapel. Da Minna nichts Genaueres angegeben hatte, konnte ein Rendez-vous zwischen ihm und Zenzl nicht veranstaltet werden. Gestern früh, als ich in den Hof wollte, wurde mir bedeutet, ich solle warten, da ich gerufen würde. Kurz danach erschien Herr Bastian und hieß mich ihm hinauf ins ärztliche Ordinationszimmer folgen (die Untersuchung am letzten Freitag fand unten im Rapportzimmer statt). Dort empfingen mich 2 Herren, der Landgerichtsarzt Dr. Aumüller und Herr Professor Port aus Augsburg, der meine Frage, ob Zenzl schon bei ihm gewesen sei, verneinte, sodaß ich mir den Zusammenhang nicht recht erklären konnte. Es begann wieder das Verhör, wie es vor der Untersuchung üblich ist. Nach kaum 10 Minuten aber ging die Tür auf, der Oberregierungsrat Hoffmann kam mit meinem Bruder ins Ordinationszimmer, und ich vermutete jetzt, daß Hans selbst dieses Zusammentreffen in München beim Justizministerium arrangiert hätte. Das erwies sich nachher als irrig. Es handelte sich in der Tat um ein zufälliges, mir aber sehr willkommenes Zusammentreffen. Professor Port nahm die Untersuchung vor, ließ Hans gelegentlich einen Befund nachprüfen, während Dr. Aumüller nur zusah. Die Schinderei, bei der auch der Blutdruckapparat in Tätigkeit trat, dauerte über 1½ Stunden. Zum Schluß gab ich noch Gründe an für die Ruinierung der Nerven, verwies auf die zweierlei Art des Festungsstrafvollzugs in Bayern, auf die Fälle Arco, Hitler, Pöhner etc., darauf, daß eine andre Strafe vollstreckt werde, als das Urteil bedinge und betonte die deprimierende, verbitternde und revolutionierende Wirkung besonders unsrer Ehetrennung auf administrative Verfügung. Ich erklärte, daß ich wie alle hier am meisten durch die aufgezwungene Sexualabstinenz leiden und verwies auf den Unterschied zwischen uns und den Zuchthaus- und Gefängnis-Insassen, die durch Arbeit und entsprechende Kost die Sexualtriebe abgetötet bekommen, während bei uns der Drang immer lebendig bleibe und nicht befriedigt werden könne. Hans stimmte mir mehrfach durch Zwischenbemerkungen zu, mußte sich aber von Professor Port eine Zurechtweisung gefallen lassen, er solle mir keine Stichworte geben, wie ihm der Professor vorher schon einmal eine Zwischenfrage bei dem Verhör verwiesen hatte. Ich merkte deutlich die kleinliche Rivalität der ärztlichen Kapazität aus Augsburg durch, weshalb mir der Mann, im Gegensatz zu Dr. Aumüller, wenig sympathisch war. Ich verlangte dann Krankenhausbehandlung und als Professor Port mich darauf aufmerksam gemacht hatte, daß im Krankenhaus ebenfalls keine Gelegenheit zu geschlechtlichem Verkehr sei, Sanatorium. Auch auf das schlechte Klima hier verwies ich und darauf, daß der Medizinalrat Steindl selbst schon mehreren Festungsgefangenen abgeraten habe, in der Frühe in den Hof zu gehn, da in dieser Moosgegend giftige Nebel aufstiegen. – Nach Beendigung der Untersuchung konnte Hans am Nachmittag noch mehrere Stunden zum Besuch hier bleiben. Dieser Besuch, der nach Tisch begann, fand nicht wie sonst in einer kleinen Zelle, sondern im Rapportzimmer statt unter persönlicher Aufsicht des Regierungsrats Badum, der sich erst nach 2 Stunden vom Oberverwalter Rieblinger ablösen ließ. Auch Hans klopfte mich noch einmal ab und gab mir die Auskunft über meine Krankheit, die mir bisher alle Ärzte verschwiegen hatten. Die Blutzirkulation sei nicht normal und anscheinend sei das Herz stark vergrößert. Vorgestern sei er in München bei Kühlewein gewesen, mit dem er eine 2stündige Unterredung hatte. Natürlich war der Organisator aller unsrer Peinigungen unendlich liebenswürdig und entgegenkommend und erklärte in schöner Unvoreingenommenheit, das Ministerium sei, falls die ärztlichen Gutachten das verlangten, durchaus nicht einer Strafunterbrechung zum Zweck der Sanatoriumsbehandlung unzugänglich. Der schnelle Besuch des Professors erklärt sich wohl dadurch, daß Zenzl Montag nach dem Besuch gleich vorn die Zustimmung zu seiner Konsultation ausgesprochen hat. Hans hat Kühlewein, der ihn über diese Berufung orientierte, sofort seine Bedenken ausgedrückt: die von Dr. Jarresdorfer und Dr. Aumüller eingereichten Gutachten seien völlig korrekt, die Differenz über den Herzbefund – bei dem Dr. Jarresdorfer einen schwereren Defekt feststellt als Dr. Aumüller, könne nicht durch Majorität aus der Welt geschafft werden, sondern nur durch Röntgenisierung und Radiobestrahlung, die nur in entsprechend eingerichteten Kliniken vorgenommen werden können. Er halte die Zuziehung des Professors Port für absolut überflüssig. Doch konnte, da Kühlewein den Namen nicht genau wußte, eine telefonische Abbestellung des Arztes nicht mehr erfolgen. Daß die Ärzte schon gestern hier sein würden, hatte Hans nicht gewußt. Sein Hineinplatzen in die Untersuchung war für alle Teile eine gleich große Überraschung, für Prof. Port scheinbar die unerwünschteste. Hans beklagte sich bei mir über unkollegiales Verhalten des Professors, das Konsilium nach meiner Untersuchung fand in ganz ungewöhnlichen und ihn verletzenden Formen statt. Prof. Port aber habe seine Ansicht kundgegeben und dabei Äußerungen gebraucht, die fast wörtlich mit dem Gutachten des Landgerichtsarztes zusammenstimmten, sodaß also klar ist, daß der Mann, obwohl er als Privatarzt auf unsre Kosten berufen wurde, noch andre als rein sachlich-ärztliche Gesichtspunkte in Betracht zog. Hans fürchtet gradezu, daß die Konsultation des Mannes die Absichten, die damit verfolgt wurden, grade erst durchkreuzen wird. Nun, ich tat, was ich für nötig hielt. Will man mich hier zugrunde richten, so tut man’s halt mit und ohne den Professor. Hans wird jetzt den Antrag stellen, daß ich Strafunterbrechung für eine Sanatoriumskur an der Ostsee erhalte, und ich werde mich, mit oder ohne Kaution, verpflichten, in diesem Falle nicht durchzubrennen, was ich, wenn ich schon einmal eine Verpflichtung eingehe, auch nicht täte. Ich glaube sogar, daß die bayerische Regierung ein Wort von mir nicht anzweifeln würde. – Ferner will Hans sich bemühen, Leute für unsre Amnestierung zu interessieren. Ich habe ihm empfohlen, vor allem die Reichssozialdemokratie auf die hinterhältigen Intrigen ihrer bayerischen Genossen aufmerksam zu machen (Grade hat wieder Sänger in München eine wuchtige Rede gegen die bayerische Klassenjustiz gehalten, und das zweierlei Maß „gegeißelt“, daß die Versammlung im Löwenbräukeller ganz erschüttert war. Aber die angenommene Resolution enthält kein Wort von Amnestie, und wir sind scheinbar in der schönen Rede ganz vergessen worden). Interessant ist, daß Herr Dr. Kühlewein meinem Bruder erzählt hat, in Bayern seien schon über 300 Räterepublikaner bedingt begnadigt worden. Als ich dann erzählte, wieviel Bewährungsfristler wieder bei uns zurückkommen, war er doch betroffen. Aber Herr Kühlewein hat auch erzählt, seit 2 Jahren sei keine Einzelhaft mehr verhängt worden. Als ich das damit ergänzte, daß ich selber vor 1 Jahr 7 Wochen lang „abgesondert“ war, war er noch erstaunter. Noch genauere Details konnte ich ihm infolge des Eingreifens Badums nicht geben. Der Landgerichtsarzt hat gestern auch noch die Genossen Brockmann und Egensperger untersucht und zwar mit Herrn Dr. Steindl zusammen. Brockmann ist magenkrank und momentan im parterre in Extrabehandlung (da er aber im Hof mit uns zusammenkommt, wirken sich die Hagemeistermethoden nicht voll bei ihm aus). Egensperger ist schwer nervenleidend und offenbar haftunfähig (aber französischer Staatsangehörigkeit!). Nun erzählte mir Brockmann heute morgen, Dr Steindl, der schon heute bei ihm war, habe sich darüber beklagt, daß so systematisch mit Lügen gegen ihn gearbeitet werde. So sei den Ärzten gestern erzählt worden, er hätte Festungsgefangene vor den giftigen Nebeln unten im Hof gewarnt, was ganz unwahr sei. Zum Glück konnte ich mit Hilfe mehrerer Genossen sofort feststellen, wer alles uns über diese Warnungen bei Konsultationen berichtet hat. Ich schreibe die Namen hier auf, um nötigenfalls Zeugen benennen zu können: Wiedenmann, Ibel, Förster, Reichert (Leo) und angeblich auch Nickl. Soviel für heute. Da ich nun wohl endlich mit den ärztlichen Untersuchungen fertig bin, kann ich hoffentlich jetzt wieder anfangen, die politische Situation zu behandeln. – Heute nur noch ein Toter: nach d’Estuornelle de Constant nun auch Alexander Prinz zu Hohenlohe. Er ist 62 Jahre alt geworden. Ein tapferer aufrechter Mann, der trotz seiner Herkunft im Kriege und nachher öffentlich für Anstand und Gerechtigkeit aufgetreten ist. In der Auslieferungsangelegenheit Cieplac gegen mich leitete er die Verhandlungen mit dem Vatikan. Cieplak hat ja inzwischen seine Freiheit wieder, doch berichtete Zenzl bei ihrem letzten Besuch, daß die Verhandlungen wegen 32 noch eingesperrter katholischer Priester und uns zwischen Moskau und Rom noch weitergeführt werden. Somit habe ich durch den Tod des Prinzen auch einen persönlichen Verlust erlitten. Persönlich kannten wir uns nicht, doch reichten die indirekten Beziehungen in die Kriegszeit zurück.

 

Niederschönenfeld, Freitag, d. 23. Mai 1924.

Meine Krankheit mit allem Dran und Drum hat in meinem Tagebuch die politische Chronik stark in den Hintergrund gedrängt, und ich wüßte kaum, wo ich den Faden wieder aufheben sollte, um das ganze Gewebe sichtbar werden zu lassen. Da wäre von den französischen Wahlen und von den Schachereien im Reich und in Bayern über die neue Regierungsbildung, von dem russisch-deutschen Konflikt und der Vorabstimmung in Hannover (bei der die Kommunisten mit allen übrigen patriotischen Parteien gemeinsam Aufrufe unterzeichneten, daß das Land preußisch bleiben müsse!) und noch sonst allem Möglichen zu reden. Abgesehn von der hannoveranischen Sache sind aber alle diese Dinge noch auf der Tagesordnung, sodaß ich gelegentlich auf sie einzeln zurückkommen kann. Die Abstimmung in Hannover aber ergab dank der unbeschreiblichen Beeinflussung und Terrorisierung sämtlicher Reichs- und preußischer Behörden (wobei sich die „Marxisten“ aller Sorten besonders hervortaten: Braun, Severing, Noske und dazu eben noch die loyale Unterstützung durch die Kommunisten) ein negatives Resultat, aber immerhin wurden über 400000 Stimmen für die Selbständigkeit abgegeben, das überwältigende Glück, unter preußischer Fuchtel zu stehn, scheint also im Laufe von 58 Jahren, selbst trotz Noske, den Hannoveranern nicht ausnahmslos eingegangen zu sein. Die Sensation bei dieser Staatsaktion kam wieder einmal aus Bayern. Es wurde nämlich plötzlich ein Brief des Innenministers Schweyer produziert, worin er sich entschuldigt, eine Vortragseinladung bei den Welfen ablehnen zu müssen und zugleich den Selbstständigkeitsbestrebungen des niedersächsischen Landes allen Erfolg wünscht. Alles tobt natürlich und überall fragt man, was Bayern sagen würde, wenn Herr Severing sich für die Loslösung der Pfalz von Bayern ausgesprochen hätte. Die erste Wirkung ist nun die, daß die Kandidatur Schweyer für den Posten des bayerischen Ministerpräsidenten damit ins Wasser gefallen zu sein scheint. Wer wird also Knillings Nachfolger werden? Vom Standpunkt unsrer Freiheitshoffnungen interessiert hier in Niederschönenfeld natürlich das was jetzt in München gekocht wird mehr als jede andre Frage. Bis jetzt liegt folgendes Faktum vor: Der Parteiausschuß der Bayerischen Volkspartei hatte nach den offiziösen Berichten das sichere Ergebnis, daß Knilling gehn muß. Ein neu gewählter Reichstagsabgeordneter, Justizrat Pfleger aus Weiden, habe auf die Programmreden Knillings, Schweyers und Kraußnecks eine so zündende kritische Rede gehalten, daß ihm die Herren Leicht und Lerchenfeld zur Seite traten und dann sämtliche Redner Pflegers Standpunkt einnahmen. Aus der Veröffentlichung ist dann die Tendenz der neu zu verfolgenden Politik in dieser Richtung ersichtlich: restlose und rücksichtslose Liquidierung der Zustände, die Bayerns Schwächung veranlassen, Wiederherstellung der Staatsautorität mit ausschließlich legalen Machtmitteln, Zurückgewinnung des bayerischen Ansehens im Reich und in der Welt. Was bedeutet das alles? Kann man unter Liquidierung etwas andres verstehn als Schaffung eines neuen Niveaus, als den „negativen Bilanzstrich“ des Staatsrats Meyer, demnach auch Amnestie? Ich glaube kaum. Pfleger ist Jurist, wird demnach seine Kritik jedenfalls juristisch aufgezogen haben. Man sagt ihm nach, er neige zur Reichszentrumspolitik, was ja hierzulande als weit „links“ gilt. Wenn er Bayerns Ansehn, speziell in Justizdingen wiederherstellen will, ist kaum anzunehmen, daß er es wegen zu wenig reaktionärer Tendenz angegriffen findet. Er wird also wohl von Fechenbach und Niederschönenfeld nicht geschwiegen haben, als er von Hitler und Pöhner sprach (à propos Pöhner: dieser zu 5 Jahren Festung „verurteilte“ „Hochverräter“, der wegen Krankheit in ein Sanatorium beurlaubt ist, nimmt, wie in der Presse mitgeteilt wird, sans façon an den Fraktionssitzungen der Völkischen im Landtag teil). – Nun kam heute an Toller ein Brief von Schlaffer an, der ungeheure Sensation im Hause macht, zumal ihn die Zensur durchgelassen hat. Schlaffer schreibt, daß die Amnestie sozusagen beschlossene Sache sei. Die bayerische Volkspartei sei selbst dafür, wolle nur nicht soweit gehn wie die Kommunisten, und etliche Zuchthausgenossen ausschließen. Doch hofft Schlaffer, mit Hilfe der Demokraten, der Sozialdemokraten(?), des Bauernbunds und eines Teils der Völkischen, die getrennter Meinung sind, ein „Maximum“ auch gegen die Regierungspartei in dieser Frage erreichen zu können. Stimmt das, woran ich im ersten Teil kaum zweifle, so haben wir im Laufe des Juni mit großer Wahrscheinlichkeit die Qual hinter uns. – Inzwischen werden wieder eifrig Bewährungsfristen bewilligt, und zwar wie immer unter auffälliger Bevorzugung von Gefangenen, deren Bewährungsfrist wegen krimineller Vergehen schon widerrufen waren. So hat Messerer für nächsten Montag seine zweite Entlassung erhalten und heute wurde Plattner plötzlich (d. h. also auf Strafunterbrechung mit nachfolgender Bewährungsfrist) entlassen: ein ganz netter, harmloser junger Mensch, Berufsboxer und dabei übertrieben nervös und sensibel, was kein Gegensatz und keine Seltenheit zu sein scheint. Wir sind durch sein Ausscheiden zum ersten Mal seit Hagers Entlassung vor 10 Monaten wieder bei unserm bisherigen Minimum von 18 Mann angelangt und werden mit Messerers und Hornungs Entlassung, falls inzwischen kein neuer Zugang kommt, in einigen Tagen einen neuen Rekord erleben. – Sonst ist zur Hauschronik anzumerken: Brockmann kam gestern wieder von unten herauf; er bekommt jetzt Extrakost, Milch, Eier etc, woraus zu schließen ist, daß auch er in kurzer Zeit entlassen wird. Früher war Weißbrot und Milch für viele Patienten selbstverständlich, aber das hat seit Jahren aufgehört, und als man bei Blößl nicht ohne derartig kostspielige Zutaten auskam, entließ man ihn trotz seines Knasts von 10 Jahren nach 4½ Jahren. – Enzinger hatte, da die Schwalben bei ihm neuerdings anbauten, vorgeschrieben und dringend gebeten, man möge das Nest belassen, das ihn nicht störe, er sei bereit, selbst für Reinlichkeit zu sorgen, und in Gefängnissen bestehe die Vorschrift, Schwalbennester dürften bei Strafe nicht entfernt werden. Die Antwort bestand darin, daß die Verwaltung an dem Tage, an dem die armen Tiere den letzten Halm zu ihrem Häuschen befestigt hatten, das Nest herunternehmen und zerstören ließ. Enzinger bekam den Bescheid: die Schwalben mögen sich in den Scheunen anbauen. Leider konnte er es den trostlosen Tierchen nicht begreiflich machen, die nun ganz verzweifelt herumflattern und nicht wissen, wohin sie die Eier legen sollen. Zum übrigen. – Wieder ein Toter aus dem weiten Reich meiner persönlichen Bekanntschaft: Peter Thoma, der Jäger seines Bruders Ludwig, ist ihm nachgefolgt. Als ich Ludwig Thomas Gast in Tegernsee war (1912 oder 13), war ich mit dem knochigen, knorrigen, stillen und originellen Mann beisammen, über dessen allgemeine Werte ich natürlich nichts aussagen kann. Ein Weitgereister, der von sich wenig Wesens machte. R. i. p.

 

Niederschönenfeld, Sonnabend, d. 24. Mai 1924.

Schlaffers Brief bewegt die Gemüter. Es gibt Zweifler, die gute Gründe gegen die Zuverlässigkeit seiner Angaben anführen, Gründe, welche in der Eitelkeit Schlaffers liegen, die befürchten läßt, er habe seine eignen Argumente und die Art, wie er sie zur Geltung brachte, für so überwältigend gehalten, daß er Zustimmung hörte, wo allenfalls eine Höflichkeit laut wurde. Was mich stutzig macht, ist die Aussicht, er werde Demokraten und Sozialdemokraten für die Freilassung auch aller Zuchthausgenossen gewinnen: in Frage stehn da doch wohl hauptsächlich die armen Opfer des „Geiselmord“-Prozesses, und Lindner, dessen Chancen immerhin nach der Freilassung Arcos wesentlich gebessert sein dürften. An unsre Amnestierung glaube ich allerdings auch unabhängig von Schlaffers Botschaft, einfach weil ich mir die angekündigte „Bereinigung“ und „Liquidierung“ der Zustände nicht ohne sie vorstellen kann. Wenn wir freilich auch diesmal wieder im Stich gelassen werden, dann ist es schlimm, denn jetzt ist es sicher, daß in dem Fall in unsrer Haftbehandlung keinerlei Besserung, sondern höchstens noch weitere Verschärfungen bevorstehn. Eben überbrachte Herr Rieblinger uns die neue Hausordnung, in Schreibmaschinenvervielfältigung jedem ein Exemplar mit dem Bemerken, daß es in der Zelle aufzuhängen sei, aber Eigentum der Verwaltung bleibe und bei der Entlassung unversehrt wieder abzuliefern sei. Das Ding ist eine unglaubliche Verhöhnung aller unsrer langjährigen Klagen und Beschwerden. Die wenigen Änderungen gegenüber der früheren betreffen die Rechte, die uns zustehn, und deren einfach nirgends Erwähnung geschieht und sonst die Normierung der Verschärfungen, die zumeist schon in geheimen Administrativanordnungen gegen uns verhängt waren. Neu ist aber, daß zu den Hausstrafen jetzt noch die Sperre auch des Post-Empfangs kommt. Besuche werden in Gegensatz zur früheren Hausordnung, die die Überwachung ins Ermessen des Vorstands stellte, jetzt prinzipiell überwacht, das was bisher „Sicherungsmaßnahmen“ hieß, heißt jetzt, immerhin ehrlicher, „Hausstrafen“, Wein darf man nicht mehr flaschenweise, sondern nur noch quartweise bekommen, und im allgemeinen werden dem Vorstand die Handhaben gegeben, noch mehr als schon bis jetzt in allen Dingen nach freier Willkür und bewährter Ranküne zu verfahren. Ich wüßte gern, ob man in Landsberg die gleichen „Vorschriften für die Festungshaftgefangenen“ ausgegeben hat. Ich vermute, daß man dort auf derlei Formalitäten ganz verzichtet. Es wird späterer Ermittlung vorzubehalten sein. – In den Zeitungen keine Neuigkeiten. Der Streik der Ruhrbergarbeiter wird dauernd durch Werkstilllegungen und Aussperrungen im größten Stil verschärft. Die Gewerkschaften müssen angesichts der Stimmung der Arbeiter wohl oder übel vorläufig mittun: Natürlich nur, um die Hand zum Abwürgen am Halse des Proletariats zu halten. Aber schon hat die Bewegung politischen Charakter angenommen, nicht nur, weil es sich schließlich und endlich um den 8Stundentag überhaupt handelt, sondern – das Kriterium für den politischen Charakter einer wirtschaftlichen Bewegung, – weil schon bewaffnete Kräfte gegen die Arbeiter eingesetzt werden – Herr Severing, der Sozialdemokrat, bewährt sich als behandschuhter Noske ausgezeichnet. – Gegen die „Notstandsarbeiter“ – die Verbände, einschließlich der des „linken“ Herrn Aufhäuser, hatten gleich ihre Beamten-Mitglieder aufgefordert, bei Aufruf zu Notstandsarbeiten anzutreten – herrscht ungeheure Erbitterung. Schon wurde die Bande in einer Zeche von 600 Frauen herausgeholt, und Severings Büttel waren ohnmächtig dagegen. Woanders hat aber schon belgisches Militär mit der blanken Waffe eingegriffen, und natürlich sind die deutschen Regierungen, ob sie nun „marxistisch“ verseucht sind oder nicht, um ihrer Großkapitalisten willen in banger Sorge. Der tägliche Schaden wird auf 6 – 8 Millionen Goldmark taxiert, dazu kommt, daß die Franzosen die Regiekohle aus den Halden beschlagnahmt haben, sodaß also auch keine Vorräte mehr da sind, gefördert wird bei dem Umfang des Streiks so gut wie nichts – schon sind über 1 Million Arbeiter beteiligt –, und der Streik bzw. die Aussperrung greift auf andre Branchen – die Metallindustrie! – über. Gleichzeitig setzt die Kreditnot des deutschen Kapitals ein, da die ausländischen Garanten erst wissen wollen, was aus den Dawes-Vorschlägen wird, und die Marx-Regierung hat bereits ihre Demission einreichen müssen, da die Deutschnationalen ihr das befohlen haben. Zugleich ist in Frankreich ein ähnlicher Zwischenzustand, da Poincaré nach den neuen Wahlen keine Majorität mehr für sich hat; dort wird höchstwahrscheinlich Herriot die Regierung bilden, während bei uns die bei „Krisen“ übliche[n] Fraktionsschiebereien im Gange sind. Die Deutschnationalen wollen Tirpitz zum Reichskanzler haben, den lehnt das Zentrum ab, die Deutsche Volkspartei, seit Stinnes’ Tode nicht nur mehr in bildlichem Sinne kopflos, torkelt von rechts nach der Mitte und von der Mitte nach rechts, – wird’s also wohl schmeißen dürfen –, und die Sozi bieten sich würdelos an, kriegen aber von allen Seiten die kalte Schulter zugekehrt. Hätten die Arbeiter keine Führer und ließen sie sich nicht mehr vor den Karren von Strebern spannen, dann wäre ihr Spiel zur Zeit leichter als je seit Jahren. Gottseidank sind aber auch die Bourgeois zu idiotisch, um zu sehn, daß das Proletariat von Idioten gegängelt wird. Auf welcher Seite sich zuerst ein selbständiger Wille durchsetzt, da wird die Partie für Jahrzehnte oder, wenn’s das Proletariat ist, für immer gewonnen werden.

 

Niederschönenfeld, Montag, d. 26. Mai 1924

Jetzt besteht endlich volle Sicherheit! Nur der Zeitpunkt ist noch ungewiß. Heute war Zenzl auf der Rückfahrt von München hier: ganze 3 Stunden waren ihr bewilligt. Mehr wäre, nachdem sie erst vor 8 Tagen und inzwischen Hans hier war, ein Übermaß von Gnade und Entgegenkommen gewesen. Sie sah erschreckend angestrengt aus, und als ich sie fragte, bekam ich die rührende Antwort, daß sie die plötzliche Gewißheit, daß unsre Qual nun wirklich vor dem Ende steht, zu sehr mitgenommen habe. Sie war am Donnerstag bei Kühlewein, der sie erstaunlich liebenswürdig empfing und dem sie diesmal viel von ihrem Schmerz sagen konnte. Auch sie erhielt die Zusicherung, daß falls die ärztlichen Gutachten es notwendig fänden, mir sofort Strafunterbrechung gewährt würde. Übrigens, sagte Kühlewein zum Schluß, könne sie ohne Furcht sein, denn „in 1 – 6 Monaten“ gebe es ohnehin kein Niederschönenfeld mehr. Das ist die erste einwandfrei zuverlässige Bestätigung. Ich werde nun anfangen, meine Sachen in großem Maßstab heimzusenden, da ich bestimmt annehme, daß für den Fall, daß sich die allgemeine Entlassung wirklich noch monatelang hinzieht (ich vermute, daß sich Kühlewein versprochen und gemeint hat: in 1 – 6 Wochen), vorher noch für mich die Strafunterbrechung wegen Haftunfähigkeit kommt. Das geht dann plötzlich vor sich, wie gestern bei Brockmann, bei dem also die Untersuchung am Mittwoch außerordentlich rasch gewirkt hat. Das war nun freilich bei ihm vorauszusehn, denn seine Magenkrankheit steht so schlecht, daß man ihn sogar hier mit Mehlspeisen, Eiern und Milch füttern mußte. Das tut man nicht gern, und so ging’s Hals über Kopf. Brockmann war ja nur knapp 6 Wochen hier gewesen, über seine Persönlichkeit habe ich infolgedessen kein Urteil. Gestern abend verließ uns nun auch Messerer (die eigentliche Entlassung war erst heute früh), dem zum 2. Mal Bewährungsfrist zuteil wurde. Auch über ihn verlohnt sich’s nicht, Charakterstudien zu machen. – Wir sind nun nur noch 16 Mann, am 3. Juni geht Hornung und wahrscheinlich inzwischen noch weitere. Allem Anschein nach will man, wenn die Stunde kommt, schon möglichst viele aus dem Hause haben, um einen Massenabzug – und draußen Massenempfänge zu verhindern. – Also nun wirklich: der Schleier beginnt sich zu heben, und vielleicht tausche ich mit Zenzl den nächsten Kuß ohne Zeugen.

 

Niederschönenfeld, Mittwoch, d. 28. Mai 1924.

Ich bin bei der Inventuraufnahme der Bücher, die ich als Frachtgut heimsenden will: es werden an 200 Bände und Bändchen werden. Zwar werde ich vieles, was ich immer wieder mal zur Hand nehme, vermissen, aber ich sehe an der Riesenarbeit, die mit den Vorbereitungen verbunden ist, wie zweckmäßig es ist, die Hauptlast für den Moment der Befreiung abgewälzt zu haben. Die Frage: wann und wie? erregt die Gemüter fortgesetzt, und es wird vielerlei orakelt, je nach Temperament, Charakter und politischer „Einstellung“. Wie wird sich in Bayern und im Reich (wo die Marxregierung nun ebenfalls demissioniert hat) das neue Regime gestalten? Daß Knilling nicht mehr in Frage kommt, ist das Einzige, was in Bayern feststeht. Im übrigen wird eifrig kombiniert. Da brachte der in der Regel vor allen andern eingeweihte Miesbacher Anzeiger gestern eine vollständige Regierungsliste, die er allerdings selbst nicht recht ernst genommen zu wollen scheint. Aber es sind Einzelheiten darin, die wahrscheinlich klingen: Vorsitz: Pfleger; Justiz: Staatsrat Meyer, Fürsorge: Königbauer. – Als Innenminister wird ein unbekannter Name angeführt, ein Herr Laforet aus Ochsenfurt. Nun entdeckte Karpf, daß sich dieser Name aus der Umkehrung des Namen Terofal ergibt, und da der sehr populäre Xaver Terofal, der Direktor eines Bauerntheaters, gern als Typus eines „G’scherten“ angeführt wird, lachte man mich, der ich die Liste ernst nahm, wegen des Reinfalls gründlich aus. – Vorläufig zweifle ich aber noch etwas an dem Reinfall. Soviel ich weiß gibt es in Bayern den Namen Laforet, und so kann es sehr wohl sein, daß im Gegenteil Xaver Terofal ursprünglich eben jenen Namen trug und ihn ad usum artis umkehrte. Als Finanzminister soll nach dieser Quelle ein Deutschnationaler in Betracht kommen, eben damit die Bayerische Volkspartei für die eigne Partei den Ersatzmann des kompromittierten Dr. Gürtner im Justizressort stellen kann. Ich glaube an eine dieser Kombination entsprechende Liste aus ganz objektiven Gründen. Nicht so sehr der Hitlerputsch, der mehr Symptom als Ursache der bayerischen Krise war, sondern in erster Linie das Sachverständigengutachten zwingt die Eigenartisten den Sologesang in den Chor der gesamtdeutschen Kakophonie einzugruppieren. Nach diesem Gutachten hat der bayerische Separatismus kaum mehr Chancen, und bis jetzt stand die ganze bayerische Politik doch mehr oder weniger unter Einflüssen, die nicht so sehr fern ab von Rheinbund- oder Donaumonarchie-Ideeen lagen. Mit den Leoprechting- und Fuchs-Machhaus-Prozessen hat man halt das Gesicht gewahrt. Aber die Träume des Dr. Heim und die zahllosen Andeutungen über bayerische, von sehr offiziellen Persönlichkeiten ausgehende, Anbiederungen mit den Franzosen sind nie so widerlegt worden, daß kein Erdenrest geblieben wäre. Das Gutachten substituiert nun ein einheitliches deutsches Wirtschaftsgebiet als Grundlage aller dieser Vorschläge. Mit Annahme dieses Gutachtens hört das Deutsche Reich de facto auf, souverän zu sein: die Kontrolle über die Eisenbahnen, über die Notenbanken, die Zölle etc., wozu in verschärftem Maße die Militärkontrolle kommt, räumt den Siegermächten einen unermeßlichen Einfluß in ganz Deutschland ein, und es ist klar, daß diese Staaten auf Bayern keine außerordentlichen Rücksichten nehmen werden. Im Gegenteil: kommen hier Tendenzen zum Vorschein, die die Sabotage der Verträge verraten, so werden die Züchtigungen gegen Bayern empfindlich genug sein, einmal in der Art der Kontrollausübung, dann aber auch bei den Lieferungsaufträgen für die Sachleistungen. Da wird also wohl die nordbayerische Industrie einen gewissen Druck in München geltend gemacht haben, und daher „Bereinigung“ und „Liquidierung“ vorn und hinten. Unsre Amnestierung ist natürlich nur eine Blume in dem Strauß, wenn auch für uns die einzig süßduftende. Wie weit die Amnestiefrage schon gediehen ist, kommt besonders markant dadurch zum Ausdruck, daß plötzlich sogar die bayerischen Sozi unwiderstehliche Gerechtigkeitsbedürfnisse verspüren. Die Münchner Post bringt eine ganz objektive und darum umso wirksamere Gegenüberstellung von Urteilen gegen die Räterepublikaner 1919 und die Hitlerianer 1924. Sinn dieser Veröffentlichung kann nur sein, wenn es auch nicht ausgesprochen wird: Schluß mit der Rache für die Räterepublik! Natürlich ist’s ekelhaft und bitter genug, plötzlich die Brut, die das ganze Unheil durch ihren infamen Verrat über uns heraufbeschworen hat, uns bedauern zu sehn. Aber der Zweck ist mir klar: Man sieht, daß man in der Regierung und in der Bayerischen Volkspartei tatsächlich die Amnestie will, und jetzt möchte man nicht hinten bleiben mit sozialer Gerechtigkeit. Jetzt wird also – nach über 5 Jahren zum ersten Mal diese Walze aufgezogen, um nachher sagen zu können: Endlich ist es unsern unermüdlichen Anstrengungen gelungen, die Opfer der bayerischen Klassenjustiz aus den Krallen ihrer Schergen zu befreien! – Ja, die Münchner Post wird unglaublich tolerant: sogar ich darf in ihren Spalten bemitleidet werden. Die Liga für Menschenrechte veröffentlicht einen Appell an die bayerische Regierung, in der diese ersucht wird, für die Behandlung meiner Ohren einen Facharzt zuzulassen. Unterzeichnet ist der Aufruf von einer Reihe allerklingendster Namen, darunter Professor Einstein, v. Aster, Valentin, Hans Delbrück, Löbe, Eduard Bernstein etc und – peinlicherweise – auch Hermann Müller und Stampfer. Mir sind solche Aktionen immer etwas beklemmend. Ich mag nicht vor den Kameraden voraus Extrawürste haben – ein ehemaliger Freund von mir, von egoistischem Charakter und erheblichem Fettgehalt hielt es mir denn auch gestern schon vor, als ob ich’s der Reklame wegen selbst arrangiert hätte. – Außerdem kommt die Geschichte, da sie nur von den Ohren spricht, reichlich nachträglich, und die Regierung hat es sehr leicht, darauf zu antworten. Die gute Wirkung kann trotzdem davon kommen, daß ein Grund mehr da ist, die allgemeine Ausmistung zu beschleunigen. – Der bayerische Landtag tritt am 3. oder 4. Juni zusammen. Allerdings wird er einen größeren Teil der neugewählten kommunistischen Abgeordneten wohl nicht gleich unter sich sehn. Man hat in München einen Bezirkstag der annoch verbotenen Partei ausgehoben und 62 Mann verhaftet, darunter Schlaffer und noch 2 Landtägler, ferner Buchmann, den Münchner Reichstagsvertreter, Dr. Karl Frank, der hier oben saß und als Preuße ausgewiesen wurde, also wegen „Bannbruchs“ extra frisiert werden dürfte, – und unsern braven alten Vater Thierauf. Vorläufig wird also in Bayern noch dieselbe Gaudi mit „Umstürzlern“ gemacht, die „links“ orientiert sind, wie bisher, während man sich an die „Nazi-Bazi“ immer noch nicht herantraut. Schlimm wird’s wohl nicht werden. – Der Reichstag ist schon zum ersten Mal zusammengekommen. Die Kommunisten haben geschrieen: „Heraus mit den politischen Gefangenen!“ und haben Erhard Auers Platz mit einem blutbefleckten Bukett, den Platz Ludendorffs mit einer blauen Brille geziert. Wenn die guten Leute, die das veranstalten, die Parlamente konsequent zum Krachtheater machten, wär’s ja recht, aber sie überbieten gleichzeitig alle andern Parteien in „positiver Mitarbeit!“ – Immerhin, wenn sie mit ihrem Geschrei die Amnestie um 24 Stunden früher ans Licht zaubern können, amnestiere ich sie für diesmal auch.

 

Niederschönenfeld, Sonnabend, d. 31. Mai 1924

Während der Prozeß gegen die Herren Thormann und Grandl wegen des Mordplans gegen Seeckt ähnliche Stinkblasen aus dem nationalistischen Sumpf hochtreibt wie der Hitler-Prozeß – das Urteil wird wohl so lauwarm ausfallen wie das Münchner auch – zittert Deutschlands politische Hautevolée der Entscheidung über die neue Regierungsgruppierung entgegen. Die Deutschnationalen, die durch Aufschlucken der Landbündler und der von den Stinneseln abgesprungenen Nationalliberalen die stärkste Fraktion stellen, haben denn auch schon den Platz des Herrn Löbe durch den Monarchisten Wallraf okkupieren lassen. Der Taktvolle hat Herrn Marx beauftragt, die neue Regierung „auf möglichst breiter Basis“, id est: „Bürgerblock“ zusammenzustellen, und nun gakelt und mirakelt es bei unsern „Republikanern“ (wir haben ja fast nur faute de mieux-Republikaner), ob das Fürchterliche Ereignis werden wird, daß die Konservativen in die Reichsregierung eintreten. Diese Hornochsen haben garkeinen Grund sich aufzuregen. Sie haben – speziell die Sozialdemokraten von 1918 an alles getan, um den traditionellen Regierern der Monarchie als den „gelernten“ Regierungsvirtuosen sämtliche Plätze der eigentlichen Verwaltung zu erhalten, und sie haben stets die Noskes, Hörsings, Severings und Richters, die Auers, Schneppenhorsts e tutti quanti gestellt, um die Arbeiterschaft, die die Gefahr erkannte, die in diesem Verrat lag, kurz und klein zu schlagen. Bisher mußte sich der Feudaladel und die Finanzaristokratie damit begnügen, die Hand am Hebel des Apparats zu halten. Wenn sie jetzt auch selber firmieren wollen, so heißt das nur: der Mohr hat seine Schuldigkeit getan. Er kann gehn. Es ist also sehr gut möglich, daß der eigentliche Macher der nächsten deutschen Innenpolitik monarchistisch nicht bloß mit dem Herzen sondern auch mit aktivem Willen sein wird – und außenpolitisch wird dieser Westarp oder Hergt genau das Gleiche tun, was die „Demokraten“ ja immer schon getan haben: die Auslandsdiktate unterschreiben und dann sabotieren. Psychologen werden ja grundsätzlich bei uns nicht zu Amtsgeschäften zugelassen, sonst wäre schon längst eine Regierung auf den Gedanken gekommen, daß grade in der Politik eines völlig besiegten Landes den Siegern gegenüber die Moral immer das beste Geschäft ist. Jetzt geht’s um die Dawes-Gutachten, die selbstverständlich so wie sie sind gefressen werden müssen. Die „öffentliche Meinung“ in Deutschland aber hat, als man es zuerst zu sehn kriegte, ein neues „Versailles“ aus der Sache gemacht, so laut und entsetzt „unannehmbar“, „untragbar“ und „Niemals!“ geschrieen, daß es heute sehr schwierig ist, plötzlich ganz und gar umzustuken. Die Deutschnationalen helfen sich nun so, daß sie das Gutachten zur „Verhandlungsgrundlage“ machen wollen, was natürlich die Wirkung hätte, daß die Ententeländer endgiltig den „schlechten Willen“ Deutschlands konstatieren würden und statt zu verhandeln Zwangsmaßregeln ergreifen würden, die sich von den früheren nur dadurch unterschieden, daß sie statt von Poincaré, dem gestürzten „Sadisten“ allein, von der „Arbeiterregierung“ Mac Donalds, von der „linken“ französischen Regierung Herriot oder Painlevé oder Briand oder Caillaux, von der „demokratischen“ Regierung Theunis in Belgien und von dem Faszisten Mussolini in schöner Eintracht durchgeführt würden. Die Rentenmark wäre beim Teufel, aus den Krediten und Moratorien würde nichts werden, die Separatisten im Rheinland könnten sich neu festigen – und den Arbeitern böten sich neue Revolutionschancen, die außer dem deutschen Proletariat keins der Welt vorübergehn lassen würde. Ich bin also außerordentlich für eine möglichst rechtsgerichtete Reichsregierung, obwohl ich weiß, daß auch Herr Hergt mit Wasser kochen müßte, – aber der Koch wäre halt in Paris und London und erst recht in New-York bei den Geldgebern suspekt. – Auch in Bayern ist die Regierung noch nicht da. Unter den zahlreichen Kombinationen aber, die durch die Presse gehn, ist eine interessant genug. Darin heißt es, als Ministerpräsident solle – Emminger herangeholt werden. Das ist, wo jetzt die Justiz „bereinigt“ werden soll, sicher der geeignetste Mann, – und es hätte immerhin einigen Reiz für uns, grade von dem Spezialfreund die Freiheit geschenkt zu erhalten, der uns in aller Öffentlichkeit im Reichstag „die roten Lumpen von Niederschönenfeld“ genannt hat. Morgen ist der 1. Juni. Vielleicht ist dieser 1. Juni der letzte Juni und der letzte Monat in diesem Jammerhause überhaupt. Wenn ich nur mal das tägliche ausgekochte Schweinefleisch nicht mehr zu riechen brauchte! Wochen-, monatelang dasselbe. Mich würgt’s im Halse, wenn ich dran denke.

 

Niederschönenfeld, Montag, d. 2. Juni 1924

Bayern, das deutsche Reich und Frankreich sind immer noch ohne Regierung. In Frankreich ist zwar der Regierungscharakter einigermaßen sicher, nur zieren sich dort die Renaudels und Blums noch ein wenig, und man verlangt, daß der Präsident der Republik Millerand verschwinden soll, da man ihn für die reaktionäre Politik Poincarés mitverantwortlich macht. Ohne Millerands Rücktritt will kein „Linker“ den Auftrag zur Regierungsbildung übernehmen. Bei uns ist man weniger empfindlich. Ebert, „Revolutions“-Reichskanzler von Max von Badens Gnaden, Reichspräsident ohne Wahl durch die von ihm selbst als „Volksbeauftragter“ geschobene Ovationskomödie, der im November 1918 das Deutsche Reich als für immer begraben erklärte und es im Januar 1921 als seinen Glauben, seine Liebe und seine Hoffnung umarmte, dieser Ebert machte seine Freunde Scheidemann, Müller und Bauer, machte die Klerikalen Fehrenbach, Wirth und Marx, machte die Großkapitals-Prokuristen Cuno und Stresemann zu Reichskanzlern und ist bereit und entschlossen, den Teufel und seine Großmutter selbst zur Leitung des Reichs zu berufen, wenn sie ihm nur weiter die Möglichkeit lassen, mit Ausnahmeverordnungen und Belagerungszuständen seine ehemaligen Klassengenossen in die beispielloseste Not zu jagen, die je ein Proletariat hat aushalten müssen, dem Kapital unbequeme Landesregierungen, wie in Sachsen und Thüringen, mit seinen Parteigenossen gegen seine Parteigenossen davonzujagen, den Angreifern der Republik, deren wahrhaft würdiger Repräsentant er ist, jede Ungelegenheit, die ihnen von Republikanern beim Morden in den Weg gelegt werden könnte, durch fleißiges Arbeiterschlachten aus dem Wege zu räumen und vor Monarchisten Buckelchen zu machen. Ebert aber thront im Glanze seines Glückes ungestört von der Empörung des deutschen Proletariats, von den demokratischen Republikanern im Gegenteil bewundert wegen des „Taktes“, den er stets an den Tag legt, wenn ihm die Pflicht geböte, für die Klasse, der er entstiegen ist, Recht zu üben, und angegriffen nur von den Nationalisten, die den „Marxisten“ für unwürdig erachten, sie zu regieren. Armer Karl Marx! – Also den emsigen Fraktionsschiebern aller Richtungen ist es bisher noch nicht gelungen, eine neue deutsche Reichsverwaltung zusammenzuschustern. Die Deutschnationalen haben den sie umwerbenden Herren von „der Mitte“ Bedingungen gestellt, die selbst den Stinneseln zu happig waren, und das Zentrum und die Demokraten markieren nun Charakter, und Herr Marx, der Beauftragte, läuft unaufhörlich zu den Parteibonzen aller Farben, und kurz und gut: es geht um Deutschlands Sein oder Nichtsein, wovon niemand tiefer durchdrungen ist als die „Marxisten“. In Bayern ist inzwischen auch noch nichts geschehn, was Klarheit gebracht hätte. Nur ist man sich hier über das Grundprinzip klar: gegen links! Aber die Frage ist: mit oder ohne „Liquidation“. Je länger man die Geschichte beobachtet, umso klarer wird, daß zwischen den bisherigen Machern der bayerischen Politik – d. h. der Bayerischen Volkspartei und den Deutschnationalen – ähnliche Personalstreitigkeiten gehn wie zwischen den Deutschnationalen und der Deutschen Volkspartei im Reich. Jetzt heißt es: die Kombination einer Regierung Pfleger ist aufgegeben. Der Weidener Justizrat war ihnen doch wohl zu „links“. Nun hat aber der annoch amtierende Justizminister Gürtner seinen deutschnationalen Parteigenossen eine Rede über die „Lage“ gehalten und dabei erklärt, die verlangte „Liquidation“ in Bayern dürfe unter keinen Umständen Formen annehmen, die den Beifall „der Linken“ fänden. Das geht natürlich gegen uns und bedeutet u. a., daß nach Ansicht dieses Herrn zwar Hitler mit den Seinen amnestiert werden soll, aber um Gotteswillen nicht auch wir. Da ist nun aber interessant und wichtig, daß der Bayerische Kurier diese Rede Gürtners zum Gegenstand eines eignen Leitartikels macht und dartut, daß die Zufriedenheit und das Wohlwollen der Linken kein Kriterium für Recht oder Unrecht sei. Man spricht bei all diesen Auseinandersetzungen das Wort Amnestie nie aus, sondern spricht bloß allgemein von „Liquidation“ und „Bereinigung“ speziell auf dem Gebiet der Justiz. Ich kann mir für meine Person jedenfalls nicht vorstellen, daß Dr. Kühlewein, der Mann also, der doch wohl die Vorlage des Amnestiegesetzes auszuarbeiten hätte, der Frau eines Gefangenen, der noch über 10 Jahre Haft mit Ehetrennung vor sich hat, Aussicht auf kurz bevorstehende Wiederherstellung von Freiheit und Ehe machen würde, wenn er nicht absolute Sicherheit dafür hätte. Morgen ist Landtagseröffnung. Ob man noch vor Pfingsten, also noch in dieser Woche überhaupt von solchen Dingen wie Amnestie reden wird, ist unwahrscheinlich. Vermutlich werden nur die Völkischen verlangen, daß ihr Pöhner auch formell als immun und frei anerkannt wird. Da die bayerischen Kommunisten diesmal keinen einzigen ihrer gefangenen Parteigenossen für das Parlament haben wählen lassen, bleibt der Bourgeoisie das peinliche Dilemma erspart, ob sie lieber mit zweierlei Maß messen soll oder im Gegensatz zur bisherigen Praxis auch Kommunisten immun erklären sollen. Im Reichstag werden sämtliche eingesperrten Abgeordneten – Kriebel und 8 Kommunisten – heute herangefordert werden. Aber die Mandatsjäger der „antiparlamentarischen“ KPD haben ja Sauber und Karpf mit ihren 12 Jahren nicht vorgelassen. Sie sollen lieber in Niederschönenfeld bleiben. Ich bin heilfroh, das Anerbieten der Partei mich aufzustellen, abgelehnt zu haben. Ich hätte mich schämen müssen, auf diese Weise frei zu werden, wenn man die eignen Parteigenossen erbarmungslos im Stich läßt.

 

Niederschönenfeld, Dienstag, d. 3. Juni 1924

Wer deutscher Reichskanzler, wer bayerischer Ministerpräsident wird, ist immer noch unklar. Es heißt jetzt, in München stünden die Herren Graf Oberndorf, ehemals Gesandter in Sofia und Emminger zur engeren Wahl. Mir soll’s gleich sein, denn ich glaube nicht, daß über die Politik des Landes eine Person entscheidet, es sei denn, es handle sich um eine Persönlichkeit, und die käme schwerlich dazu, einen Posten zu besetzen, der von Nullen vergeben und von Nullen umworben wird. Wichtiger als alle diese im Grunde formellen Fragen sind die eigentlichen Vorgänge im öffentlichen Getriebe. Der Streik im Ruhrgebiet ist nach 3 Wochen „beigelegt“, d. h. der von der Regierung veranlaßte Schiedsspruch des Herrn Mehlich, der kleine Lohnerhöhungen und kleine Abstriche von der Arbeitszeitverlängerung bringt – die Verlängerung absolut ist also geblieben – wurde für „verbindlich“ erklärt und nach etwas Hin und Her, etwas Geziere und Gemächle beiderseits angenommen, wobei die Industriellen, die ihren Sieg haben, jammern, daß es eigentlich unmöglich sei, diese Entscheidung hinzunehmen und also schon darauf vorbereiten, daß sie in kurzer Zeit auch noch ihre weiteren Forderungen gegen die Arbeiter erzwingen werden, während die Arbeiter-Bonzen, die den Karren verfahren haben, freudestrahlend versichern, daß die Proleten hochzufrieden sein können mit dem Resultat des Kampfes. Die Kommunisten, die den Kampf diesmal tatsächlich geleitet haben, tun so, als ob nur die 4 offiziellen Gewerkschaften Schuld haben. Sie werden es kaum je begreifen, daß ökonomische Kämpfe heutzutage garnicht mehr mit ziemlich gleichgültigen Teilforderungen und in lokalen Bewegungen geführt werden können. Nicht auf die Erhaltung des 8stündigen Arbeitstages im Kohlenbergbau kommt es an, sondern auf die Brechung der Kapitalssklaverei. Aber die Narrheit, statt der Arbeiter die „Führer“ über all und jedes entscheiden zu lassen, bringt es eben mit sich, daß erst ein 13wöchiger Werftarbeiterstreik mit Teilforderungen verloren geht und dann kurz hinterher – nachdem auch noch der Chemikalienarbeiterstreik in Baden dahin ist – die Bergarbeiter wieder mit Teilforderungen in den Streik treten. Von der Gesamtarbeiterschaft werden Opfer über Opfer verlangt, um die Kämpfenden finanziell über Wasser zu halten, aber diese Solidarität ist nutzlose Kraftvergeudung. Nur die Solidarität durch Mitstreiken und nur der Streik mit dem Ziel der Expropriation des Kapitals ist sinnvoll. Die Syndikalisten und Unionisten propagieren denn auch schon die Ablehnung von Lohn- und Zeit-Streiks, aber die Arbeiter lassen sich zum 1000ten Mal in aussichtslose Unternehmen hetzen, laufen den „Freien“ Gewerkschaften, den Christlichen, den Hirsch-Dunckerschen und den Moskauern nach, die alle was verschiedenes wollen und von denen jede überzeugt ist, daß nur ihre beamteten Führer Umfang und Ziel jeder Bewegung und den Schacher mit den Unternehmern leiten dürfen. Das Ende ist Erschöpfung des Proletariats, vorzeitige Übermüdung und Dekuragierung, und Massendisziplinierungen, Einkerkerungen und womöglich Niederknüppelung durch Schupo und „Schwarze Reichswehr“. Daß es die gibt, man spricht von 800.000 Mann wird jetzt von Geßler selbst zugegeben, und zwar in der Begründung der Strafverfolgung Zeigners wegen „Landesverrat“. Dessen Angaben im sächsischen Landtag – von seiner Immunität ist nicht die Rede – werden nicht bestritten, sondern nur erklärt, daß der „Feindbund“ keine Verfehlungen gegen den Versailler Vertrag erfahren darf. So macht man denn einen „Landesverrat“ nach dem andern zum Prozeß, und jetzt soll auch Gumbel dran glauben, der ein Buch über die Verschwörer-Organisationen herausgegeben hat. Also nicht wer sich gegen die deutsche „Republik“ verschwört, begeht Landesverrat, sondern wer die Verschwörer gegen die Republik belästigt. Gesegnete Zustände. Natürlich verrät man dem „Feindbund“ garnichts Neues. Die neue Note über die Militärkontrolle beweist es: Nollet bleibt solange mit seiner Kommission tätig, bis die berühmten 5 Punkte vollständig befriedigend erledigt sind, erst dann tritt er zugunsten des „Völkerbundes“ zurück. Unsre Patrioten aber glauben, man könne die interallierten Kontrolleure täuschen, und wenn man möglichst viele Leute, die wie Gumbel, Quidde, Gerlach etc. warnen, als Landesverräter einsperrt, wird das Ausland garnichts ahnen. Das hat aber schon den Hitler-Prozeß mit ganz andrer Kritik verfolgt als man bei uns denkt, und der Thormann-Grandel-Prozeß, der viele prominente Leute, wie Reventlow, Claß, Gräfe etc schwer kompromittiert und einen ungeheuren Sumpf, nicht aufdeckt, aber doch riechen läßt, enthüllt dem „Feindbund" viel mehr Verbotenes als alle „Landesverräter“ zusammen, vor allem aber die Duldung und Förderung der Vertragssabotage durch den gesamten offiziellen Apparat und besonders die Justiz. Über all dem politischen Stunk und Dreck übersieht man beinah die noch bezeichnenderen Symptome der Auflösung im wirtschaftlichen und Geschäftsleben. Die wider Erwarten langlebige Rentenmark wirkt sich allmählich gegen die Inflationsspekulanten aus. Die Geschäftszusammenbrüche häufen sich gewaltig, aber man weiß jetzt auch Pleiten zu verschleiern, indem man die falliten Unternehmungen unter „Geschäftsaufsicht“ stellt, wobei die Kundschaft garnicht erfährt, daß die Bank, der sie ihr Geld anvertraut, insolvent ist. Wohin man blickt Schwindel und Betrug. Wenn wir herauskommen, werden wir uns überhaupt nicht einzuordnen wissen, weil wir vor 5 Jahren ja noch eine immerhin einigermaßen, wenn auch nur äußerlich solide Gebarung gekannt haben. Jedenfalls werden wir noch erst eine ganze Weile zu lernen haben, was inzwischen geworden ist, ehe wir selbst wieder am öffentlichen Geschehn aktiv teilnehmen können. Heute ist nun wieder Einer von uns gegangen, der eigentlich ein ganzes Buch beanspruchen könnte. Aber das ist in Tollers „Wotan“ schon vorhanden: unser Georg Hornung. 10 Jahre wollte das Würzburger Standgericht ihn „büßen“ lassen. Aber auch die bayerische Justiz hat wohl erkannt, daß dieser Phantast keine Gefahr für Land und Leute bedeutet. Seine immer wieder neuen Pläne, Erfindungen, Welteroberungen, seine Renommistereien mit seiner Vergangenheit und noch mehr seiner Zukunft, diese ganze köstliche Mischung von Barbier, Flieger, Chauffeur, Erfinder, Organisator, – seine Gesellschaftsgründungen für Massenauswanderung nach Brasilien – und als man ihn von dort verwarnte – nach Paraguay, die ganze Naivetät des Mannes, in dem sich die größte subjektive Ehrlichkeit mit der verwegensten Münchhausenpersönlichkeit paart, dieser unsagbar komische und zugleich rührende Kerl, der der festen Überzeugung ist, der Räterepublik die eigentlich geniale Note gegeben zu haben und doch zu Unrecht bestraft zu sein, – er ist draußen und wird nun wohl bald wohlriechende Seifen verkaufen und dabei seine Revolution in bengalische Beleuchtung setzen, seine Motorbaumsägen, seine Baumhebemaschinen für die Urwaldriesen von Paraguay anpreisen und gleich wieder neue Riesenpläne zur Befreiung der Menschheit ersinnen. Damit ist der letzte 10jährige fort: der arme August Hagemeister mußte hier sterben, Peter Blößl kam schwerkrank und seelisch gebrochen heraus, Georg Hornung soll sich bis 1929 „bewähren“. Aber ich hoffe, auch die Bewährungs-Bedingungen werden in diesem oder dem nächsten Monat mit der allgemeinen „Liquidation“ auch für ihn gestrichen werden. – Eine Kleinigkeit: Eben wurde ich ins Rapportzimmer gerufen. Mir wurde ein im Malik-Verlag erschiene[ne]s Stück: „Freie Bahn dem Tüchtigen“ von „Xaver“ vorgehalten, das unter den zur Zensur gegebenen Büchern gefunden ist. Dahinein hat mir Ernst Ringelmann zum Abschied – während ich unten in Einzelhaft saß – eine lange Widmung geschrieben, die das Mißfallen des Zensors erregt hat. Ich wurde gefragt, ob ich die Seite mit der Widmung aus dem Buch herausnehmen lassen wolle, da sie zum Akt genommen werden soll. Ich habe natürlich die Zustimmung nicht gegeben. Lieber soll man das ganze Buch beschlagnahmen. Ich werde es schon mal wiederkriegen.

 

Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 5. Juni 1924

Es ist bitter, aber ich kann mich keinen Täuschungen mehr überlassen: die Krankheit scheint wieder mobil zu werden. Gestern abend spürte ich es schon, heute früh wachte ich mit jenen verdächtigen Erscheinungen auf, mit denen es gewöhnlich losgeht, zählte den Puls und stellte 52 Schläge in der Minute fest. Das ist sehr wenig. Ich nahm dann Anistropfen und steigerte den Pulsschlag allmählich, im Augenblick fühle ich nur ein allgemeines Unbehagen und dieses bekannte Verschobensein des Körperschwerpunkts, das immer in sich die Vermutung birgt, das Leben könnte plötzlich seine Funktionen einstellen und das Herz ein für allemal den Generalstreik erklären. Der letzte Anfall war der stärkste, den ich je erlebt habe, und wenn nun nach den paar Wochen schon wieder ein Rückfall da ist, kommen mir die beruhigenden Versicherungen der Ärzte recht fragwürdig vor. Vorerst will ich mal nicht dran glauben, daß es sich wirklich wieder um dieselbe Schweinerei handelt. Vielleicht ist morgen doch alles wieder in Ordnung. Aber der Wunsch und selbst der feste Wille allein hilft nicht immer, – das habe ich das vorige Mal deutlich genug gespürt. Es wäre doch wirklich eine Infamie sondergleichen, wenn ich den Kahn, nachdem ich ihn über 5 Jahre durch den Ozean bayerisch-eigenartiger politischer Rachemethoden gelotst habe, angesichts des schon winkenden Hafens versacken lassen müßte. Arme Zenzl! wenn ich es nur ihr ersparen könnte. Ich will nun heute an Hans schreiben und ihn bitten, dem Gesuch um schleunige Strafunterbrechung erhöhten Nachdruck zu geben. Bis jetzt ist es ja noch nicht gar so arg, aber es ging auch das letzte Mal ziemlich glimpflich an und dann kam das dicke Ende nach. – Heute ist nun meine große Bücherkiste fortgegangen. Gebe Gott, ich sehe sie daheim wieder und brauche nicht selber in eine Kiste verpackt nachgeschickt zu werden. – Was anderes. Heute ist im II Stock lebhafter Betrieb. Eine große Zahl neuer Schutzhäftlinge sind eingetroffen (darunter wieder einmal auch Schwab). Sie stammen aus der Razzia, bei der 62 Genossen verhaftet wurden, die die KPD wieder organisieren wollten. Nach den Zeitungen sind bis auf einen alle diese Leute wieder aus der Untersuchung entlassen worden, da kein Fluchtverdacht vorliege, eine Anzahl aber in Schutzhaft genommen worden. Die Mitteilung ist sehr interessant. Es ist nämlich das erste Mal seit 1920, daß in Bayern Kommunisten als nicht fluchtverdächtig freigelassen worden sind. Jüngst erst mußte Erika Schollenbruch, die doch gewiß an kein Auskneifen dachte, ihre Verurteilung zu 1 Monat wegen des gleichen Delikts im Gefängnis abwarten. Ob das nicht schon auf neuen Kurs hindeutet? Die Sache wird dadurch noch interessanter, als gleichzeitig bekannt wird, daß der Oberleutnant Heines, der wegen des Überfalls auf die Stadträte am 9. November zu 15 Monaten Festung mit sofort wirksamer Bewährungsfrist „verurteilt“ war, plötzlich verhaftet und nach Landsberg gebracht worden ist. Man fängt also schon an, die Urteile in den Hitlerprozessen ein wenig nachzumustern. Damit soll offenbar Parität markiert werden, sodaß dann die Amnestie für alle Seiten umso wünschenswerter wird. Die Völkischen im bayerischen Landtag (die übrigens Pöhner zum Fraktionsvorsitzenden gemacht haben, der wegen Krankheit beurlaubt ist) beantragen dort die Strafaussetzung für Hitler und seine Gefährten. Damit werden sie schwerlich Glück haben, umso weniger als der Reichstag die Freilassung Kriebels aufgrund seiner Reichstagsabgeordneten-Immunität abgelehnt hat. Es handelte sich darum, ob 2 Abgeordnete herausgelassen werden sollten oder nicht, nachdem der Geschäftsordnungsausschuß sich für die Entlassung der meisten inhaftierten Kommunisten und Kriebels, aber gegen die des Hamburger Kommunisten Urbahn ausgesprochen hatte. Die Sozi und Kommunisten machten ihre Haltung in Sachen Kriebels abhängig von der Stellungnahme der Nazi-Bazi in Sachen Urbahn. Die schickten ausgerechnet Herrn Dr. Frick als Redner vor, der verkündete, Kriebel habe aus „vaterländischen“ Motiven gehandelt, aber Urbahn sei Schuld an der Hamburger Metzelei (!), und seine Genossen stimmten für Nichtanwendung der Immunität Urbahns. Damit entschieden sie zugleich auch gegen Kriebel, da dessen Freilassung nun als Revanche von der Mehrheit abgelehnt wurde. Hätte ich mich wählen lassen, so ist als sicher anzunehmen, daß ich mit derselben Begründung, mit der man Kriebels Freigabe ablehnte, ebenfalls hier gelassen worden wäre. Ich hätte also meine Gesinnung verraten und nicht einmal den Judaslohn bekommen! – Die verschiedenen „Krisen“ sind bis jetzt alle noch in der Schwebe, es lohnt sich nicht über die ekelhaften Schachermacheien zwischen Postenjägern aller Färbungen im Einzelnen Buch zu führen. Aber in Berlin ist wieder ein Prozeß zu Ende gegangen, der der Rede wert ist. Der Oberleutnant Ankermann, der Hauptheld beim Überfall auf Harden ist zu 6 Jahren Zuchthaus wegen Mordversuch verurteilt worden. Der Anstifter des Mordplans Grenz und Ankermanns Tatkomplice Weichardt sind seinerzeit viel billiger davongekommen. Festgestellt wurde, daß Ankermann sich bei allen seinen Handlungen von öden Geldinteressen leiten ließ und x mal wegen Betrugs und Unterschlagung vorbestraft ist. Aber Ehrverlust wurde nicht gegen ihn erkannt, um ihm die Rückkehr ins bürgerliche Leben nicht unmöglich zu machen. Der Schwindler und Hochstapler, der gedungene Bravo soll der bürgerlichen Gesellschaft erhalten bleiben. Ja, man kann meinen, da er gegen bar morden wollte, ist er nicht ehrlos. Lindtner hat seinen Mordversuch, der garkeiner war, da er im Affekt handelte, wahrhaftig nicht eigennützig begangen. Daher auch 14 Jahre Zuchthaus und 10 Jahre Ehrverlust! – In Österreich aber hat ein Mann einen Schuß auf Seipel abgegeben und den Bundeskanzler schwer verwundet. Dieser Spinnereiarbeiter war in schwerster Not einer Versuchung unterlegen und hatte eine Unterschlagung begangen. Er ertrug diese Schande nicht und beschloß Selbstmord zu begehn, aber den Mann mitzunehmen, den er – und weiß Gott nicht er allein – für den Schuldigsten am Elend des Proletariats hielt. Er selbst brachte sich auch 2 Schüsse bei, scheint aber ebenfalls außer Lebensgefahr zu sein. Wird man ihm die „Ehrenrechte“ absprechen oder zuerkennen? Ach, er ist ein Lindtner, – nur insofern besser dran als er nicht Auer, sondern bloß Seipel zum Feind hat. Auer hat jetzt sein Reichstagsmandat niedergelegt. Der Grund ist klar: weil er ja auch in den Landtag gewählt ist und ihm seine Partei die Ausübung beider Mandate nicht zubilligt. Außerdem dürfte ihm die Reichssozialdemokratie diese Wahl nahegelegt haben, da er im Norden denn doch keinen Arbeiteranhang mehr hinter sich hat und von der Partei als allerschwerste Kompromittierung, schwerer noch als Noske, empfunden wird. Was tut aber der Auer-Vater? Er erläßt eine Erklärung, worin er seinen Verzicht auf Berlin mitteilt und damit erklärt, daß er noch immer an Lindners Schüssen leidet. Man hat Arco freigelassen, seine eigne Partei teilt mit, daß sie im Reichstag einen Amnestiegesetzentwurf einbringt, – da muß dieser Kerl doch noch einen Versuch machen, den Rächer Eisners, der in Straubing in der Irrenabteilung sitzt, als „Querulant“, weil er seinen Fall wieder aufrollen möchte, nach 5½ Jahren immer noch im Zuchthaus festzuhalten! Werde ich einmal wieder gesund, – Erhard Auer darf sich gratulieren. Seiner körperlichen Existenz werde ich gewiß nichts zuleide tun – das sind seine Kampfmittel, die er daher jedem andern zutraut, – aber seine „historische Persönlichkeit“, die menschlichen Reste post mortem, die gedenke ich hinzurichten. Nur noch leben bleiben!

 

Niederschönenfeld, Freitag, d. 6. Juni 1924

Abends ¾ 7 Uhr. Abschrift: „An den Herrn Festungsvorstand. Ich halte mich für verpflichtet, davon Mitteilung zu machen, daß meine Krankheit neuerdings ins akute Stadium getreten ist. Da ich das unbezwingliche Gefühl habe, daß meine Haftfähigkeit vollständig erschöpft ist, bitte ich nunmehr bei der zuständigen Stelle mit möglichster Beschleunigung meine Strafunterbrechung zu beantragen. Sollte neuerdings die Konsultation des Herrn Landgerichtsarztes Dr. Aumüller von der Verwaltung für wünschenswert gehalten werden, so bitte ich dazu über mein Konto-Guthaben zu verfügen.      N’feld. 6 Juni 1924     Erich Mühsam.

 

Niederschönenfeld, Sonnabend, d. 7. Juni 1924.

Jetzt habe ich schon wieder eine ärztliche Untersuchung hinter mir. Mittags – ich hatte mich nach dem Bade wieder ins Bett gelegt – erschien Herr Fetsch und forderte mich auf, ihm in den Altbau, ins Spital hinüberzufolgen, da die Verwaltung einen Arzt habe kommen lassen. Mich begrüßte Herr Dr. Aumüller aus Neuburg, befragte mich, schrieb auf und nahm dieselbe Untersuchung, die ich immer wieder über mich ergehn lassen muß, noch einmal vor. Das Resultat war allerdings überraschend. Der Arzt erklärte mir, er habe mich nun 3mal allergründlichst untersucht, und könne versichern, daß mir garnichts fehle. Mein Herz sei gesund – er wäre froh, wenn das seine ebenso gesund wäre, die Herzgrenzen seien genau festzustellen und es sei von einer Herzvergrößerung keine Rede, er habe mich auf Lungen, Milz, Nieren und alle Organe geprüft, die Blutzirkulation funktioniere vollständig regelmäßig und normal, und kurz und gut: meine Krankheit beruhe auf Nervenreflexen, da ich mich viel mehr um meinen Körperzustand bekümmere als mir zuträglich sei, vor allem dürfe ich mir niemals selber den Puls abzählen etc. Diese Bestätigung meiner einwandfreien Gesundheitsbeschaffenheit mußte ich mir anhören, während mir zugleich die Beine den Dienst zu versagen schienen und meine körperliche Empfindung, wie in diesen Tagen dauernd und auch augenblicklich, die eines durchaus Kranken war. Immerhin hat mir der Arzt jetzt etwas verordnet: Bromural, wovon ich abends 2, morgens 1 Tablette nehmen soll, auch soll ich nun wöchentlich 2 halbwarme Wannenbäder kriegen. Herr Dr. Aumüller erklärte, daß auch der Professor Port der Meinung sei, daß mein Herz gesund sei; Hans hat also recht gehabt als er die Besorgnis äußerte, daß dieser teure Spezialist eher das Gegenteil von dem bezwecken werde, wofür er bestellt war. Ich weiß nun wenigstens woran ich bin: mit der Strafunterbrechung wird selbstverständlich nichts werden, und meine Krankheit tut ja nur mir weh. Daß die beiden Privatärzte zu andern Schlüssen gekommen sind als die von der Verwaltung empfohlenen, kann nichts helfen, und sterbe ich, so ist die Behörde von ausreichend autoritativen Gutachten gedeckt. Ich aber muß mich mit der Belehrung trösten, daß meine Krankheit, die ich mir wahrhaftig nicht wünsche – und die ich auch jetzt wieder meinen nächsten Freunden solange verheimlichte, bis sie selbst mich fragten, was mir fehle – überhaupt nicht vorhanden ist. Ich – ausgerechnet ich Illusionist – bin ein Hypochonder, heut ist dies zum ersten Mal durch ärztlichen Befund konstatiert worden. – Ich werde selbstverständlich nicht aufhören, meine Bemühungen um Strafunterbrechung fortzusetzen, da mir keineswegs suggeriert werden konnte, daß meine Krankheit auf Selbstsuggestion beruht. Nur meine Taktik werde ich ändern müssen. Krank melden werde ich mich nicht mehr, denn für ganz aussichtslose Manipulationen auch noch bezahlen – wozu? Der Schutzverband deutscher Schriftsteller übersandte mir gestern 50 Mark „zur Durchführung Ihrer ärztlichen Behandlung“. Davon wurde heute schon die Hälfte für Herrn Dr. Aumüller ausgegeben, – übrigens keine teure Liquidation. Ich werde an Hans schreiben, dessen abweichende Meinung der Landgerichtsarzt auf Familienbefangenheit zurückführt und ihn bitten, sich mit Herrn Dr. Aumüller direkt in Verbindung zu setzen und dem Justizministerium Fachgutachten darüber zu übersenden, daß ein einwandfreier Befund über die Herzgrenzen ohne Röntgenisierung nicht möglich ist. Aber darüber, daß, gleichviel wie sich mein Zustand weiter entwickelt an meine Freilassung vor der Zeit, d. h. vor der Amnestie, kaum gedacht wird, bin ich mir jetzt klar, obwohl Schlaffer an Sauber geschrieben hat, er habe an zuständiger Stelle erfahren, daß meine Entlassung unmittelbar bevorstehe und daß Egensperger in ein Sanatorium überführt werde. Aber es haben sich in den letzten Tagen in Bayern doch wieder einige politische Momente gezeigt, die ein Abbremsen der Einlenkungspolitik der Bayerischen Volkspartei vermuten lassen. Im Landtag hat man die Wahl des Präsidiums vorgenommen. Bei dieser Gelegenheit sind die Sozi, die ebensoviel Abgeordnete aber mehr Stimmen haben als die Völkischen ganz aus der Leitung des Parlaments hinausgeflogen, da bei der Stichwahl für den Vizepräsidenten viele Abgeordnete der Bayerischen Volkspartei, die offiziell Stimmenthaltung proklamiert hatte, den Völkischen wählten. Nun erklären allerdings die Klerikalen, sie hätten schon einem Sozialdemokraten ihre Stimmen gegeben, aber nicht dem vorgeschlagenen Kandidaten: Erhard Auer, denn der habe bisher schon als Vizepräsident eine zu große Parteilichkeit – zugunsten der Linken! bewiesen. Das sind natürlich faule Flausen. Die Herren von der Bayerischen Volkspartei wissen gut, daß bei den Sozi kein zweiter Mann zu finden ist, der so „unparteiisch“ in ihrem Sinne, d. h. gehässig gegen jeden proletarischen Kämpfer wäre wie Auer. Wenn sie trotzdem sagten: jeder ist uns recht, außer Auer, so bedeutet das einfach, daß ihnen – selbst ihnen – dieser Kerl zu unsauber ist, um mit ihm mehr als nötig in Berührung kommen zu mögen. Aber Erhard Auer hat den Charakter als geschäftstüchtiger Streber, der ihm als Vertreter der proletarischen Klasse fehlt. Es setzte durch, daß seine Auerochsen ihn justament präsentierten, und so sitzt nun ein Nationalsozialist an dem ersehnten Pöstchen. Damit kommen aber den Nazis natürlich auch allerlei schwelgerische Träume, und schon arbeiten die Deutschnationalen mit Hochdruck darauf hin, man möge die Völkischen in die neue Regierungskoalition mit einbeziehen, und den bis jetzt so übertriefend entrüsteten Ultramontanen scheint der Gedanke, sich mit den Kulturkampfherren zu verbünden, schon nicht mehr so furchtbar unsympathisch zu sein. Auf der andern Seite wollen allerdings die Bauernbündler nur in die Koalition, wenn mit der Knillingerei radikal gebrochen wird, und so geht der Stunk weiter, und vorerst hat sich der Landtag nach der einen Sitzung, bei der die Kommunisten den vorgeschriebenen Spektakel machten und angeblich uns Niederschönenfelder hochleben ließen, bis 14 Tage nach Pfingsten vertagt. Falls bis dann wirklich eine Emminger- oder Pfleger- oder Oberndorfer-Regierung oder überhaupt eine Regierung zusammengekleistert sein sollte, könnten ja also dann die Amnestie-Anträge steigen, die von Kommunisten und Völkischen zu erwarten sind. Die Völkischen werden umso mehr dazu gedrängt, als man jetzt tatsächlich anfängt, die ganzen Bewährungsfristen aus den Hitlerprozessen zu revidieren und sogar die Aufrechterhaltung der Bewährungsfristen für Hitler und die 5jährigen Landsberger – also außer ihm noch Weber, da Kriebel im Reichstag ja doch wohl eines Tags noch angefordert wird und Pöhner sterbenskrank und überdies als Vorsitzender der Landtagsfraktion unabkömmlich ist – nach 6 Monaten gerichtlich nachprüfen lassen will. Möglicherweise beschließt also wirklich der Reichstag noch eher unsre Amnestie als der Landtag. Denn der ist nun „arbeitsfähig“, da Herr Ebert endlich einen Reichskanzler und die dazu passende Reichsregierung gefunden und ernannt hat: es ist Herr Marx mitsamt seinem Außenminister Stresemann, Innenminister Jarres und allen andern, die bisher auch schon zum Herumdoktern am kranken Leibe unsres teuren Vaterlands „ermächtigt“ waren, dieselbe Regierung ist wieder da, wegen deren Unfähigkeit der alte Reichstag sich auflösen ließ und um die zusammenzubringen man jetzt der Welt ein 4wöchiges „Krisen“-Theater vorgeführt hat. Herr Marx hat erklärt, daß man erst mal das Gutachten der Dawes-Kommission fressen müsse, die Völkischen, Deutschnationalen und Kommunisten plärren und schimpfen. Die Sozialdemokraten aber zeigen, daß sie auch in der „Opposition“ „vaterländisch“ genug sind, um jede Regierungsvorlage anzunehmen, die den Wünschen des Ententeauslands entgegenkommt, wenn sie auch zehnmal das Proletariat noch tiefer in die Knechtung der infamsten Ausbeutung treibt als bisher. Das ist ihre „Realpolitik“, deren Ausflüsse wir ja in der gesamten Herrlichkeit des neuen Deutschlands erblicken, zumal in der Justiz. Da hat man jetzt die völkisch-alldeutschen Herren Thormann und Grandel, die den Reichswehrgeneral Seeckt „umlegen“ wollten, freigesprochen. Warum? Weil sonst der Führer der Alldeutschen Claß etwas sehr peinlich kompromittiert gewesen wäre. Aber die Begründung ist schön: 2 Lockspitzel des Reichssicherheitskommissars Grindl und v. Tettenborn hätten ihre Klauen im Spiel, und, sagt das Urteil, Verabredungen mit Spitzeln, die ja selbst garnicht morden möchten, gelten nicht. In München urteilte man anders. Da wurde Herr v. Putkammer, der durch Markieren des Einverständnisses aus einem Jüngling dessen Plan zur Ermordung Scheidemanns herauslockte, wegen „Anstiftung zum Morde“ zu 8 Monaten verurteilt, und hat sie abgesessen. Er ist nämlich Pazifist. Ja, die Gleichheit vor dem Gesetz!

 

Niederschönenfeld, Montag, d. 9. Juni 1924

Pfingstmontag. Speisezettel: Mittag, Brotsuppe, Schweinefleisch, geröstete Kartoffel und Kopfsalat, abends: Graupensuppe und Wurst. Ich notiere das, weil dieses Pfingstmenü, so üppig es sich liest, ein wahrer Hohn auf ein Festessen ist. Auch gestern gab es das Sonntagessen ohne Andeutung eines besonderen Ausnahmetags, aber doch wenigstens Schweinebraten. Heut aber Schweinefleisch, d. h. ausgekochtes ungenießbares Fett, das einem nachgrade zum Speien ist. Wir haben hier Genossen, die ihr ganzes Leben lang Kohldampf geschoben haben und früher glücklich waren über das viele Fleisch, das wir hier bekommen. Jetzt müssen sie, die wahrhaftig bescheiden und nicht verwöhnt sind, nach ihren eignen Aeußerungen aufstoßen, wenn sie morgens an der Tafel lesen: Schweinefleisch. Die Suppen werden mit einem Pflanzenfett zubereitet, dessen Geruch widerlich ist, irgendwelche Andeutung von Fleisch ist nicht in der Brühe, Graupensuppe, auf die wir uns heute abend z. B. zu freuen haben, ist der in allen Gefängnissen verschrieene „Blaue Heinrich“ und die allabendliche Wurst, mag sie Leberkäse oder Streichwurst, Schwartenmagen oder Preßsack heißen, habe ich seit vielen Monaten nicht mehr angerührt aus Furcht vor Darmkatastrophen, wie ich – und sehr viele Genossen noch – sie häufig in der Folge haben erleben müssen. Die entsetzliche Abwechslungslosigkeit in der Verpflegung, das ewige Einerlei besonders des grauenvollen ausgekochten Schweinefleisches drückt ungeheuer auf die Laune aller Genossen. Dazu kommen dann weitere Dinge. Zum Beispiel hat das brutale Ausrottungsverfahren der Verwaltung gegen die Schwalben ungeheure Empörung verursacht. Die Tierchen wissen natürlich nicht, daß die Nester heruntergerissen werden. Sie glauben, daß sie im Bau Fehler gemacht haben und fangen immer wieder unermüdlich mit engelhafter Geduld von neuem an, bald an einer andern Stelle, bald etwas kleiner und immer etwas verschieden von dem zerstörten vorigen Nest. Jetzt haben sie bei Millmann – ich glaube das fünfte Mal angefangen, dieses Mal ist das Nestchen so klein, wie ich nie ein Schwalbennest gesehn habe. Die armen Kerlchen werden auch da hinein ihre Eier nicht legen, ihre Brut nicht füttern dürfen. Es sind wohl an 10 Nester in den verschiedenen Zellen schon angelegt, und alle immer wieder heruntergerissen worden. So gern wir die Vögelchen bei uns haben, die meisten jagen sie schon hinaus, weil dann die Quälerei, obwohl im Augenblick fühlbar genug, doch nicht so groß ist wie die, die in der Verwüstung der Arbeit liegt. Die Urteile der Genossen über dies Verfahren, – und besonders derer vom Lande – ist außerordentlich hart. Mit dieser Maßregel hat die Verwaltung – und ich glaube, das ist kein schlechtes Zeugnis für das Herz der revolutionären Proletarier – mehr böses Blut gemacht als mit allen ausgesuchten Schikanen gegen uns. Aber auch da fehlt es nicht an entsprechender Kritik. Ein Beispiel. Der Hof der Schutzhäftlinge ist an einer Ecke von unserm mittleren Gangfenster aus zu sehn. Da ist denn nun während aller Hofzeiten ein aufgeregtes Beobachten des hinter unserm Käfiggitter Wache haltenden Aufsehers zu bemerken, sobald sich einer von uns an das Fenster hinstellt. Gestern nachmittag sah ich mit Toller zusammen hinaus und zwar blickten wir andauernd nach rechts, also nach der Seite, nach der der Schutzhafthof angrenzt. In Rain war nämlich ein Fest, natürlich ein militärisch-patriotisches der Fußartilleristen, und so war die Straße nach Rain von geputzten Leuten belebt, für uns ein immerhin sehenswerter Anblick. In die übersehbare Ecke des Hofs kam natürlich auch hier und da ein Schutzhäftling, so auch Schwab, doch wurde keinerlei Verbindung aufgenommen. Plötzlich aber erschien Herr Fetsch und erklärte, er habe festgestellt, daß wir Verbindung mit den Herrn von oben aufgenommen hätten. Dies war zwar nicht wahr, aber wenn hier ein Beamter etwas „feststellt“, ist jeder Widerspruch Lüge und demnach gefährlich. Wir gaben infolgedessen keine Antwort. Herr Fetsch aber meinte, wir würden es dahin treiben wollen, daß das Fenster noch zugenagelt werde, eine schon verschiedene Male ausgesprochene Drohung. Wir alle zweifeln kaum mehr, daß man vielleicht diese Prozedur tatsächlich ausführen und uns dadurch das einzige Fleckchen wegnehmen wird, von wo aus wir noch die Zufahrtstraße, von der noch ein bißchen Abwechslung kommt, übersehn können. Da wir den Anlaß dazu nicht geschaffen haben, behauptet man eben, daß wir ihn geschaffen haben. Heute hatte ich mal etwas übrige Zeit für derartige Hausangelegenheiten; warum? weil man uns keine Post, seit 3 Tagen schon keine Zeitung und keinen Brief ausgehändigt hat. Freitag kam die letzte Post, und wenn Ostern und Weihnachten wenigstens stets am Samstag vorher noch einmal die Feiertagspost ausgegeben und am Montag stets ebenfalls wenigstens die Briefe verteilt waren, ist man jetzt dahin gelangt, uns über Pfingsten von Freitag bis Dienstag völlig ohne Nachricht zu lassen. Täglich neue Kleinigkeiten dieser Art, die man natürlich nicht mehr oft notiert, da die Chronik sonst garzu ermüdend wäre. Wenn es aber stimmt, was wir immer gefunden haben, daß äußere auf innere, d. h. bayerische Landes- auf Niederschönenfelder Hauspolitik wie aufs Barometer das Wetter wirkt, dann dürfen wir schließen, daß momentan in Bayern dicke Luft ist. Meine Genossen sind ja auch übereinstimmend der Meinung, daß der plötzliche Wechsel in der Behandlung meiner Erkrankung auf die Koalitions-Schacherei der konservativen Parteien zurückgeht. Siegt die Richtung Knilling-Gürtner wieder, dann, Hoffnung, fahr hin!

 

Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 12. Juni 1924

Mein Gesundheitszustand läßt nach wie vor sehr viel zu wünschen übrig. Zwar tritt die Krankheit diesmal weniger heftig auf wie bei der vorigen Offensive, aber ich habe das peinliche Gefühl, als ob sich diese einem Katzenjammer vergleichbare Unsicherheit auf den Beinen in Permanenz etablieren wollte. Ich habe inzwischen Hans einen sehr ausführlichen Bericht über die letzte Untersuchung geschrieben und ihn gebeten, jetzt mindestens die Röntgenisierung, womöglich in der Münchner Klinik, in der Resl als Röntgenistin arbeitet (Dr. Gilmer) mit Nachdruck zu beantragen. Auch Zenzl habe ich berichtet und ihr meinen Standpunkt dahin präzisiert, daß auch die Richtigkeit der Aumüllerschen Diagnose, daß es sich um nervöse Störungen handle, vorausgesetzt, sie immerhin die Folgerung zuließe, daß dann eben meine Nerven die Haft von mehr als 5 Jahren nicht ausgehalten haben und außerhalb der Haft kuriert werden müßten. Ich habe in einem Punkt in diesen Briefen nicht die Wahrheit geschrieben, nämlich darin, daß ich den Willen zur Objektivität bei Dr. Aumüller und Prof. Port als selbstverständlich anerkenne. Tatsächlich glaubte ich an die subjektive Überzeugung der Herren bis letzten Samstag. Aber diese Überzeugung wurde erschüttert, als ich Herrn Dr. Aumüller die Tatsache mitgeteilt hatte, daß ich im Jahre 1921 von Kraus ohne ärztliche Befragung und ohne die übliche Unterbrechung am 3. Tag volle 6 Nächte hintereinander zu hartem Lager verurteilt war. Ich erklärte, daß ich darauf schon früher die Verschlimmerung meiner Krankheit zurückgeführt hätte, und erinnerte daran, daß ich unten in Einzelhaft meine Beschwerde mit der Begründung nicht nach Augsburg sondern an das Justizministerium direkt sandte, daß ich den Zustand, in dem ich mich damals grade befand, dem Oberstaatsanwalt Kraus zur Last legen müsse, es handle sich also, betonte ich, nicht um die heute erst ad hoc erfundene Konstruktion. Herr Dr. Aumüller reagierte auf diese Mitteilung so, daß ich das Gefühl hatte, jetzt komme es ihm nur noch darauf an, die Verwaltung herauszureißen. Er erklärte, daß er auf eine Frage der Behörde, ob von da her Nachwirkungen da seien, aus ärztlicher Gewissenhaftigkeit mit Nein antworten müßte. Eine solche Maßregel sei natürlich unbequem, aber geschadet könne sie mir nicht haben, sonst müßte mein Herz ja entsprechende Anzeichen konstatieren lassen: dies, nachdem er eben erklärt hatte, es sei nicht das Herz, sondern die Nerven. Über meine Erinnerung daran, daß man jungen Soldaten der Gefahr wegen nicht zumute, was ein 43jähriger Mann hier ertragen mußte, und daß ich mir nicht vorstellen könne, daß 6 Nächte Schlaflosigkeit bei ärgster körperlicher Pein keine Spuren hinterlassen sollte, ging er lächelnd hinweg. Von diesem Moment an war es mir klar, daß auch dieser Arzt die Strafvollstreckung als Beamter beurteilt und nicht vom Interesse des Patienten aus. Natürlich werde ich, solange mein Gefühl mir sagt, daß ich tatsächlich haftunfähig bin, das Menschenmögliche versuchen, um – mag die Amnestie kommen oder nicht, – sobald wie möglich in eine Umgebung versetzt zu werden, die Hoffnung auf Genesung bietet. Wenn ich den Ärzten auch glaube – man glaubt halt gern was man wünscht, – daß mein Leben durch diese Erscheinungen nicht unmittelbar gefährdet ist, so spüre ich doch den allmählichen Verfall der Kräfte zu deutlich, als daß ich nicht fürchten sollte, bei längerer Verzögerung schließlich als dauernd und unheilbar Siecher die Festung eines Tages verlassen zu müssen. Das will ich Zenzl und mir ersparen suchen. Die „Liquidation“ der Justizkatastrophe in Bayern ist nun inzwischen, obwohl man immer noch keine Regierung beisammen hat, in Gang gesetzt worden, vorerst auf negativem Wege. Den Beteiligten der „kleinen“ Hitlerprozesse wird in großem Ausmaß die vom „Volksgericht“ zugebilligte Bewährung wieder gestrichen, und schon sind 31 dieser Verurteilten nach Landsberg eingeliefert zur Strafverbüßung. Natürlich großer Lärm bei den Völkischen, wobei der Völkische Kurier eine sehr interessante Mitteilung macht: Es habe bei der Urteilsfindung in den Gerichten harten Kampf zwischen Berufs- und Laienrichtern gegeben, die keine Bestrafung wollten und sich zur Zustimmung erst bereit fanden, als sie mit der Zuerkennung der Bewährungsfristen die Gewißheit hatten, daß dem Urteil keine praktische Konsequenz folgen werde. Also sei die Aufhebung der Bewährungen ein „Betrug“. Der Lärm wird freilich nicht mehr viel helfen, denn die tatsächliche Macht der Völkischen in Bayern ist gebrochen, und zwar nicht durch Lossow und Seißer, sondern durch den Sündenfall der Beteiligung am Parlamentsschwindel. Die Intellektuellen der Partei, d. h. die mit der Großbourgeoisie versippten robusten Proletariatsfeinde wie der Malzschieber Roth, der Büttel Pöhner und der Dr. Buttmann, eine neue Nummer, der die Diplomatie der „Realpolitik“ die nationalsozialistische Politik aufoktroyieren mochte, machen schon alle möglichen Konzessionen an die herrschenden Parteien, halten Konferenzen mit den Regierungsbonzen, um in die „Koalition“ aufgenommen zu werden, passen sich vorn und hinten an und schmeißen die radikalen Elemente raus, von denen sie etwelche Sympathien für Arbeiterinteressen befürchten. So hat zunächst ein Abgeordneter, der junge Aßner, der wegen einer „aufreizenden“ Rede in Schutzhaft sitzt, sein Mandat wieder abtreten müssen, eine Gemeinheit, da ihm jetzt zweifellos der Prozeß gemacht wird. Denn der § 130 wird ja jetzt auch für „linke“ Völkische praktiziert werden. Als Vorwand dient, daß Aßner 1918 Chauffeur Eisners war und sich 1919 an der Räterepublik beteiligte. Außerdem werden ihm ähnliche Dinge zur Last gelegt, wie man sie sonst nur braucht, um anders gerichtete Leute zu beschmutzen. Wenn ich nicht irre, war es dieser Aßner, der seinerzeit – im Januar 19 – die Verbindung zwischen Eisners in der Baracke des Außenministeriums stationierten Wache und mir herstellte, die zu mehreren Konferenzen führte und Eisner, als er dahinter kam, außerordentlich nervös machte. Stimmt das, so war der damals sehr junge Mensch – und daß er Chauffeur war, weiß ich sicher – ein aufgeweckter mir sehr sympathischer und ehrlich scheinender Revolutionär; wir gaben uns miteinander Mühe, die Eisnersche Leibwache, die zumeist aus Oppositionellen bestand und größtenteils mit mir sympathisierte, für den Fall eines Staatsstreichversuches, der von Auer zu erwarten war, zu einer Bindung dahin zu bringen, Eisnersche Befehle nur soweit zu befolgen, wie sie von uns Linken gebilligt wurden. Dieser Mann ist also jetzt als Erster abgesägt worden. Nun hat aber in einer Völkischen Versammlung in München nach einem schleimigen Referat Buttmanns Esser, ebenfalls ein Vertreter der revolutionären Richtung und „Novemberverbrecher“ von 1918 schärfste Kritik geübt gegen den Geist, der mit dem Eintritt ins Parlament unter den Völkischen eingerissen sei. Man sei nicht nur völkisch, sondern noch nationalsozialistisch, die Politikmacher im Landtag folgten nicht mehr den Spuren Hitlers und man verlange statt Techtelmechteleien mit der Bayerischen Volkspartei grundsätzliche Obstruktionspolitik mit Trillerpfeifen und Pultdeckeln. Esser sei, heißt es im Bericht, fortwährend von stürmischen Zustimmungsrufen applaudiert und endlich unter minutenlangen Heilrufen aus dem Saal begleitet worden. Die Spaltung geht also schon tief, und das Ende ist klar. Die Opposition wird mit Verleumdungen und mit Intrigen im Bunde mit den herrschenden Parteien von den eignen Bonzen tot gemacht werden und der Rest wird ein Klüngel parlamentarischer Streber, Schieber und Ministeraspiranten sein. Die Bewegung wird in Unehrlichkeit und Tagesschacherei versumpfen wie die kommunistische Partei auch, deren derzeitiges „linkes“ Gebaren mit Kindertrompeten und Geschrei und gleichzeitigem Verlangen nach Besetzung des Vizepräsidentenposten im Reichstag zur Genüge gekennzeichnet ist. Schon haben die Völkischen im bayerischen Landtag ihren Antrag auf Enthaftung Hitlers als nicht verfassungsmäßig zurückgezogen; sie werden also wohl einen regulären Amnestieantrag einbringen, und da kommt es ganz auf die bayerische Volkspartei an, ob sie sich bequemen wird, ihn zu unterstützen oder nicht. Vielleicht ist es den Pöhner und Roth jetzt schon ganz recht, wenn der sehr energische Hitler, der zweifellos für Aßner und Esser ist, vorerst noch außer Gesichtsweite in Landsberg bleibt. Seine Freilassung in Resolutionen zu verlangen, hinter die kein Straßendruck gesetzt wird, ist ja billig. Für uns wesentlicher ist, daß die Sozialdemokratie jetzt veröffentlicht, welche Anträge sie im Reichstag eingebracht hat. Einmal fordert sie die Vorlage des in der Reichsverfassung vorgesehenen Gesetzes über die Zähmung widerspänstiger Einzelländer durch die Reichsexekutive. Das geht natürlich gegen Bayern, und zweitens eine Amnestie der 1919 im Zusammenhang mit der bayerischen Räterepublik und 1923 im Zusammenhang mit allen Inflationsunruhen Verurteilten. Ich halte dafür, daß die Sozi, alte politische Virtuosen, die nur den do-ut-des-Handel mit den Staatshütern kennen, sich die Annahme der beiden Anträge von den Mittelparteien haben garantieren lassen als Äquivalent für die Zustimmung zum Vertrauensvotum für die Marx-Regierung, die sie tatsächlich ausgesprochen haben – natürlich aus lauterer Volksliebe. Vorerst sind beide Parlamente bis zur letzten Juniwoche vertagt; wir haben also noch einmal mindestens 14 Tage Zeit, unsre Freiheitsaussichten durch die Gitter dieses angenehmen Gebäudes in den Wolken zu suchen.

 

Niederschönenfeld, Sonnabend, d. 14. Juni 1924

Eben steige ich aus dem Bad, das ich auf Anordnung des Dr. Aumüller heute zum zweiten Mal erhielt. Ich glaube, es geht mir besser, aber ich traue dem Frieden noch nicht. In der Frankfurter Zeitung fand ich eine Notiz „Die Behandlung von Erich Mühsam“, die eine von „zuständiger Seite“ an die München-Augsburger Abendzeitung gegebene Mitteilung über meine Sache wiedergibt. Da wird das Publikum dahin belehrt, daß ich infolge übermäßigen Nikotin- und Koffeingenusses an chronischer Vergiftung leide, organisch, speziell am Herzen fehle mir nichts. Was das Gehör betrifft, so hätte ich von dem „im Herbst“ von der Behörde gemachten Angebot, mir einen Spezialisten kommen zu lassen, keinen Gebrauch gemacht. Die Hörschärfe auf dem rechten Ohr sei „etwas herabgesetzt“, und im übrigen höre ich die üblichen Unterhaltungsfragen sehr gut. Ich habe sofort eine Erklärung an Pestalozza geschickt, richtig gestellt, daß ich von jener Erlaubnis deshalb keinen Gebrauch gemacht habe, weil sie an die Bedingung geknüpft war, ich dürfe nur den von der Verwaltung benannten Arzt zur Ohrenuntersuchung kommen lassen, nicht aber den mir von Schollenbruch empfohlenen, daß die Hörschärfe fast erstorben sei und ich Unterhaltungsfragen zwar gut höre, aber nur, wenn der Frager links von mir steht, und daß die Konstatierung meiner organischen Gesundheit mit den Befunden andrer ärztlicher Untersuchungen kontrastiere. Auch Pestalozza habe ich gebeten, die Strafunterbrechung, bzw. die vorläufige Überführung in ein Röntgeninstitut zu beantragen und gegen Fluchtbesorgnisse ehrenwörtliche Verpflichtung zur Verfügung zu bleiben anzubieten. Das Gesuch auf bedingte Begnadigung zu erstrecken, habe ich ausdrücklich verboten. – Man muß nun sehn, wie die Geschichte weiter geht. Im Justizministerium scheint keine Neigung zu bestehn entgegenzukommen. Vielleicht hält man die Liquidation von Niederschönenfeld für so nah bevorstehend, daß man keine Extravergünstigungen mehr für nötig findet. Mir wär’s natürlich auch lieber mit den Genossen zusammen frei zu werden. Am Dienstag der folgenden Woche soll sich angeblich der neue bayerische Ministerpräsident dem Landtag präsentieren. Wenn der Miesbacher Anzeiger recht hat, wird’s der bisherige Finanzminister Krausneck sein, also grade der, den vor wenigen Monaten seine eigne Partei vor allen andern loswerden wollte. Was dann weiter wird, besonders in der Frage der Amnestie, ist nicht zu erkennen. Leider erhalte ich von Zenzl sehr unangenehme Nachrichten über die häuslichen Angelegenheiten. Unser alter Freund Fritz Weigel, der krank und kein sehr überlegener Geist ist, etabliert eine Art Hausdiktatur, die zu sehr widrigen Verhältnissen führt. Siegfried und Mari, Zenzls guter Hausgeist, wollen sich seine Nücken nicht mehr bieten lassen, Ferdl, der noch ohne Arbeit, vorerst bei Zenzl wohnt, verträgt sich ohnehin nicht mit ihm, und Zenzl, die überall vermitteln soll, ist drauf und dran, abzureisen und mich außerhalb ihres Heims zu erwarten. So steht mir womöglich als erste Aufgabe daheim die Annehmlichkeit bevor, Hausknecht zu spielen und den Störenfried an die Luft zu setzen. Ich bin aber fest entschlossen es zu tun. Denn Frieden in den 4 Wänden will ich unter jeder Bedingung haben. Die Aussicht auf ein baldiges Ende dieser Pein hier macht allmählich die Genossen sehr nervös. Selbst in unsrer kleinen Freundesgruppe mehren sich die lauten und aufgeregten Debatten, und zwar besonders jedesmal dann, wenn die täglichen Berichte der anarchistischen und unabhängigen Blätter über die Verfolgungen der Linksrevolutionäre in Rußland zur Sprache kommen. Was die echten, rechten Parteikommunisten sind, so heißt es einfach: es ist alles nicht wahr, hinter der Verleumdung stecken kapitalistische Kreise oder diese Anarchisten etc sind eben von der Bourgeoisie bestochene Konterrevolutionäre. Ein so grundehrlicher Mensch wie der Sandtner Gustl macht derartige Reinwaschungen ja nicht mit, ärgert sich aber furchtbar über die Protestkundgebungen und wirft den Protestlern vor, statt sich um die eignen politischen Gefangenen zu kümmern, jammern sie nur über das was 1000 Kilometer weg passiert. Auf meinen Einwand, daß die Bemühungen um unsre Befreiung dadurch außerordentlich erschwert werden, daß die angeblichen Kommunisten in Rußland ganz das gleiche tun, was sie der westeuropäischen Reaktion vorwerfen, daß die deutschen Kommunisten dazu schweigen, und daß zwischen der Brutalisierung von Revolutionären ein Unterschied ist, wenn die kapitalistische Klasse sie ausübt und wenn sie von eignen Klassengenossen getrieben wird, höre ich, daß ich voreingenommen, gehässig und nicht objektiv bin, und grade vorhin gab es deswegen ein Mordsgeschrei. Aber ehe ich nicht Beweise habe, daß die Vorwürfe gegen die autoritären Moskauer Diktatoren falsch sind, werde ich sicherlich keine Einladung dorthin annehmen, es sei denn, man garantiere mir, daß ich mich persönlich von Maria Spiridonowa über die tatsächlichen Verhältnisse informieren lassen kann. Leider glaube ich, daß die Behauptungen der Anarchisten stimmen. Man kann nur irgendeine Äußerung Bakunins über Autoritätsregierungen, provisorische Regierungen, Regierungen überhaupt nachlesen und man wird finden, daß das Treiben der Tscheka gegen linke Revolutionäre einfach die Konsequenz dessen ist, was die Bolschewiki unternahmen, als sie die Revolution in eigne Regie überführten. Sie haben sie getötet und töten infolgedessen auch die, die noch revolutionäre Ziele weiterverfolgen möchten. Die Geschichte wird ihnen kein gutes Zeugnis erteilen, nur Lenin wird vor ihr bestehn – wenigstens der Lenin von 1917.

 

Niederschönenfeld, Dienstag, d. 17. Juni 1924.

Vorgestern bekam ich von Siegfried die Nachricht, seine Mutter sei nach München abgereist und ihre Adresse sei bei Resl. Ich schrieb sofort hin und bat Zenzl, mich in der kommen[den] Woche zu besuchen, nicht noch in dieser, da meine Schwester Grethe, die ich seit 1915 nicht gesehn habe und die jetzt mit ihrem Mann in Bad Orb zur Kur ist, sich für diese Woche angemeldet hat. Mit der Abendpost kam dann noch ein Brief von Zenzl selbst aus München an. Sie hat die arme Mari, die zu meinem schmerzlichsten Ärger bei mir zuhause von „Kommunisten“ in beleidigender Form dienstmädchenmäßig traktiert wurde, heimgebracht und meldete sich nun für nächsten Freitag an, um mit mir über die zu ergreifenden Maßnahmen zu reden, um Eintracht in der Wohnung zu schaffen. Etwa um 7 Uhr wurde ich hinuntergerufen, der Herr Oberregierungsrat werde herüberkommen. Ich erwartete Antwort auf die laufenden Gesuche. Dagegen las mir Herr Hoffmann einen bei der Verwaltung eingegangenen Brief aus Orb vor, übergab mir daraus Geld für ein Telegramm, und es ergab sich aus dem Schreiben, daß Grethe am Donnerstag kommen wollte. Ich hatte ihr inzwischen schon die Besuchstage schriftlich mitgeteilt, und nun kam es darauf an, ob sie Freitag mit Zenzl gemeinsam zugelassen würde. Der Vorstand setzte mir umständlich auseinander, daß ich auf die 6 Stunden wöchentlicher Besuchszeit keineswegs Anspruch habe, sondern daß diese 6 Stunden nur für ihn gelten, nämlich Maximalzeit bedeuteten, die er nach Belieben bewilligen oder einschränken könne. Er habe mir erst unlängst aus eignem „Entgegenkommen“ über diese Zeit hinaus den Besuch des Bruders und der Frau bewilligt, im übrigen aber werde er auch weiter tolerant sein, und habe nichts gegen gleichzeitigen Empfang der beiden Damen. Nur dürfe das Zusammensein bei mir sich nur auf kurze Zeit erstrecken, also etwa die ersten 2 Stunden die Schwester, dann eine halbe Stunde beide und dann 2 oder 3 Stunden die Frau. Da ich ja mit meiner Frau diesmal zumeist Angelegenheiten zu reden hätte, die ohnehin meiner Schwester fremd seien – etc. Nun folgte wieder, wie gewöhnlich, dies entsetzlich qualvolle undelikate und distanzlose Sich-Informiertzeigen über jede privateste Einzelheit, die aus dem Briefwechsel zu entnehmen war und sogar der grinsende Hinweis auf „die Mari“ blieb nicht aus, während der Aufseher Leix im Hintergrund stand und von meinen häuslichen Angelegenheiten Kenntnis nahm. Ich erfuhr dann noch, daß der „Abbau“ den Vorstand zwinge, bei der Zeitbemessung für Besuche die mangelhafte Verfügbarkeit von Personal in Rechnung zu ziehn, und das Ende der unerquicklichen Unterhaltung war dann, daß es nun mir überlassen bleibe, ob ich Zenzl mit Grethe zugleich oder erst in der nächsten Woche hier sehn wolle. Ich habe Grethe also telegrafiert, daß ich sie Freitag erwarte und Zenzl den ganzen Tatbestand zur eignen Entschließung mitgeteilt. Falls sie von hier aus gleich nach Berlin zurück bzw. in ein Thüringer Sanatorium fahren will, soll sie trotz der Abknapsung an Zeit auch am Freitag kommen. Denn die beiden Frauen kennen sich bis jetzt nicht persönlich und könnten dann miteinander reisen. Will sie aber zunächst wieder nach München zurück, so soll sie den Besuch bis zur nächsten Woche vertagen. So werden einem selbst die kleinen Freuden des Wiedersehens mit nahen Menschen vergällt und einem immer wieder demonstriert, daß wir keinerlei Rechte haben, nach der gerühmten Länder-Vereinbarung über den Strafvollzug so wenig oder noch weniger als zuvor. Danach sollen z. B. Besuche nur abgewiesen werden, wenn ein „ungünstiger Einfluß“ vom Besucher auf den Gefangenen zu befürchten sei. Als aber neulich mein alter Freund Léon Hirsch, der sogar früher schon zugelassen war, auf der Rückreise von Italien hereinkommen wollte, wurde ihm der Besuch auf seine Anfrage nicht gestattet. Dabei weiß der Vorstand genau, daß es sich um einen nahen persönlichen Freund handelt, der schwerkrank ist, und daß von ihm ein „Einfluß“ auf mich überhaupt nicht ausgeht. Zudem ist natürlich die ganze Vorschrift überhaupt nicht für politische, sondern für kriminelle Gefangene gedacht, und in Landsberg, wo der Oberstaatsanwalt Kraus ebenso wie hier die Anweisungen erteilt, gilt sie bekanntlich auch nicht. Unsre Freude an der letzten Zeit hier wird auch in andrer Hinsicht immer wieder wachgehalten. So läßt man nicht nach, den armen Schwalben mit einem gradezu fanatischen Eifer die Nester abzureißen, die die kleinen Kerle mit unermüdlicher Zähigkeit, bald hier, bald dort und in immer neuer Bauart von neuem anlegen. Wegen der Reinlichkeit, heißt es, können Schwalbennester in den Zellen nicht geduldet werden. Schön. Nur erreicht die Verwaltung mit ihrer Methode nur, daß nicht die eine Zelle, in der sich das Pärchen ansiedelt, beschmutzt wird – und zwar hauptsächlich das Nest selbst, und die Genossen haben sich x mal erboten, nicht nur Vorrichtungen unter das Nest zu bauen, sondern allen durch die Vögel angerichteten Dreck selbst zu beseitigen –, sondern nun in einem halben Dutzend Zellen, wo die geängstigten obdachlosen Tiere wehmütig auf dem Fensterrand oder auf der Lichtleitung hocken, bekleckerte Scheiben und Tische sind. Aber damit nicht genug des Beweises, daß die Reinlichkeit der letzte Grund für diese Verfolgungswut ist. Schon vor ein paar Wochen hatten die Schwalben im Lokus am Abflußrohr anzubauen versucht. Das Nest wurde abgerissen, und nun fanden die schlauen Burschen einen Fleck, wieder auf dem Abtritt, auf dem Teller der unter der Decke angebrachten elektrischen Birne, wo sie tatsächlich ganz versteckt waren. Wir hatten alle eine Riesenfreude, daß die Aufseher das neue Nest nicht entdeckten und es ganz fertig wurde. Aber ein paar herabhängende Hälmchen haben nun leider gestern das Versteck doch verraten, und das Nest war wieder fort. Ja, man schloß – alles aus Reinlichkeitsgründen! – sogar das schwer zugängliche Lokusfenster, sodaß unsre Genossen erst mit Akrobatenkünsten dort die Lüftung wieder ermöglichen mußten. Nun sitzen die Bürschchen traurig, meist mit einem Halm oder einem Stückchen Dreck im Schnabel an allen Zellenfenstern, fliegen mal an die Wand, um zu untersuchen, ob sie nicht dort doch wieder anfangen können, und wir müssen sie rausschmeißen, so weh es tut. Die erste Brut ist schon verhindert, jetzt soll das Weibchen schon die zweiten Eier legen und darf nicht. Ich habe mich noch nie so mit der Kreatur verbunden gefühlt, wie mit diesen unglücklichen Tierchen, die so traurig dasitzen können, daß man allen ihren Schmerz im Tiefsten mitfühlt, und die doch niemals erfahren können, daß sie nur deswegen das bitterste Leid, das die Schöpfung kennt, ertragen müssen, weil die einzige Tiergattung, die die Verfolgung der eignen Art betreibt, bei ihren Qualmethoden nicht umhin kann, auch Geschöpfe andrer Art mitzuquälen. – Ich kann sagen, daß die Schwalbentragödie hier drinnen mich zur Zeit mehr beschäftigt und bewegt als all der alberne politische Krimskrams, von dem die Zeitungen voll sind; mehr als der sozialdemokratische Parteitag, bei dem eben das V vor der SPD gestrichen wurde, um zu dokumentieren, daß die Amalgamierung mit den Unabhängigen soweit vervollständigt ist, daß gegen die letzte Abstreifung einer Ähnlichkeit mit einer Arbeiter-Organisation (Pëus hat es ausgesprochen: man habe keine Arbeiter- sondern eine „Arbeitspartei“ zu sein) keine Opposition mehr zu fürchten ist (noch ein Wort Hilferdings, das der „Vorwärts“ in Fettdruck aus dem Text isoliert: „Unsre Politik soll nicht der Masse gefällig sein, sondern der Partei nützen.“ Der Gegensatz charakterisiert alles). Auch daß in Frankreich Herr Doumergue zum Präsidenten der Republik, Herr Herriot zum Regierungschef und Herr Nollet zu seinem Kriegsminister erhoben ist (was immerhin interessant genug ist) bringt mich in keine Erregungen mehr. Und sub specie aeternitatis ist der Krieg gegen die Schwalben in Niederschönenfeld gewiß wichtiger als selbst die Annahme oder Ablehnung des Dawes-Gutachtens und die Verlängerung der Micum-Verträge. Was hingegen in derselben Linie liegt, das ist die Enthüllung des „Mahnmals“ in München, das – unter den Farben der „geraubten Gebiete“ (die Tschechen werden sich besonders freuen, und die Tiroler nachschlagen, wer 1809 Napoleons treueste Büttel gewesen sind) in der Feldherrnhalle durch Eingravierung der Worte geschaffen wurde: „Herr, mach uns frei!“ – Diese bayerischen Freiheitsbegeisterten für Polen, Tschechen, Elsässer, Tiroler und Dänen aber sind dieselben, die unsre Freiheit deswegen so wenig herbeisehnen, weil wir einmal den Worten gedient haben: „Volk, mach dich frei!“

 

Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 19. Juni 1924

Fronleichnam. Ich will mich kurz fassen, da meine unbeantwortete Post mich zu ängstigen beginnt und ich bei dem herrlichen Wetter, das endlich anzufangen scheint, sich zu behaupten, die Hofzeit etwas mehr als bisher ausnützen möchte. Wenigstens über die persönlichen Angelegenheiten will ich in den Tagebüchern möglichst die Tatsachen festhalten. Vorgestern kam ein Brief von Pestalozza. Er war beim Ministerium, und dort hat man ihm das Material vorgelegt, aus dem sich ergibt, daß 5 Ärzte über die Art meiner Erkrankung der gleichen Ansicht seien: die Herren Dr. Port, Aumüller und Jarresdorffer und ferner die Vertreter des Hausarztes, die mich im April und September 1923 untersucht hätten. Allerdings hat der erste dieser Vertreter gefunden, ich leide an Arteriosklerose, und der zweite hat mich überhaupt nicht untersucht. Außerdem steht dem Befund der 3 übrigen Ärzte, bei denen ich ja auch weiß, daß sie uneins sind, da Jarresdorffer meinen Zustand ebenso beurteilt wie Hans, die Auffassung einer ganzen Serie andrer Ärzte gegenüber, – aber Pestalozzas Meinung, daß ein Gesuch um Haftentlassung oder Spitalbehandlung aussichtslos wäre, ist wohl die einzige unbestreitbare Diagnose in der Sache. Man muß also weiter „ausharren“. Wenn [sich] die in Hinkunft zu verfolgende Politik in Bayern, wo immer noch keine Regierung auf die Beine gebracht werden konnte, im Justizministerium halbwegs erkennbar sein wird, wird meine Krankheit dort vielleicht auch weniger auf ihre angeblichen Ursachen als auf ihre Erscheinungen hin berücksichtigt werden. – In der Besuchsangelegenheit wurden die Schwierigkeiten dadurch beseitigt, daß gestern früh ein Telegramm kam, das Grethes Hiersein für gestern noch ankündigte. Ich orientierte daraufhin Zenzl per Eilkarte, erst in 8 Tagen zu kommen, um nicht zuviel Zeit abgeknappt zu kriegen. Also nun habe ich Grethe denn nach fast 9 Jahren wiedergesehn. Damals 40, jetzt 49 Jahre: Das macht einen Unterschied, äußerlich wenigstens. Sie ist völlig ergraut und sehr gealtert, aber sonst an Wesen, Klugheit und Temperament unverändert. Natürlich mußte sich das überwachte Gespräch auf gleichgültigsten Quark beschränken, aber das Wiedersehn mit dem liebsten meiner Geschwister tat mir doch wohl. Hoffentlich treten Pausen von dieser Länge nicht wieder ein, wenn auch Pestalozza schreibt, er sehe dem Schicksal der Amnestieanträge im Reichstag sehr skeptisch entgegen und setze auf diese Sache keine Hoffnung. Aber er beurteilt wohl solche Fragen zu wenig unter den ganz großen politischen Gesichtspunkten, von denen doch auch die ganz kleinen politischen Entschlüsse abhängen. In der Deutschen Allgemeinen Zeitung fand ich – in anderm Zusammenhang – einen Hinweis darauf, daß Löbe in seiner großen Reichstagsrede zur Regierungserklärung ausgesprochen hat, die Zustimmung seiner Partei zu dieser Erklärung sei selbstverständlich von gewissen zuvor gestellten Bedingungen abhängig gemacht worden. Der Wortlaut des von den Sozialdemokraten vorgelegten Amnestieantrags, der Hölz, Ferry etc wieder nicht einbegreift, läßt aber darauf schließen, daß hier schon ein Kompromiß mit den maßgebenden Mittelparteien zustande gekommen ist. Nun kommt aber noch hinzu, daß augenblicklich ganz Deutschland schreit, Herriot müsse sofort eine Amnestie für die im besetzten Gebiet verurteilten Deutschen erlassen. Ich glaube kaum, daß Stresemann nicht voraussehn sollte, daß – angesichts der Amnestieforderungen im deutschen Proletariat für die eignen Inhaftierten – die nationalistische Presse in Frankreich sich nicht auf das Argument stürzen sollte, die Deutschen mit ihrem Schrei nach Gerechtigkeit heucheln, denn sonst fingen sie ja bei sich selber an, Justizskandale aus der Welt zu schaffen. Die erste Frage, wie sich die Beziehungen zum Ausland gestalten werden, ist nun allerdings die: wie die am 30. Juni ablaufende Frist zur Beantwortung der letzten Militärkontrollnote von unsern Alldeutschen genützt werden wird. Die hängen hier ein, verlangen strikte Zurückweisung und scheinen bei der Zustimmung ein neues Mordregister aufziehn zu wollen. Nun hat Herriot die Berufung Nollets zu seinem Kriegsminister durch einen besonderen Kommentar, den Havas veröffentlicht hat, zu einer direkten Probeaktion auf Deutschlands „guten Willen“ gestempelt, und der Krach bei unsern Nationalisten ist natürlich dementsprechend. Daß grade in diesem Punkt jedes Handeln und jedes Verweigern völlig vergeblich ist und daß da sämtliche Alliierte völlig übereinstimmender Auffassung sind, sieht man bei uns nicht oder will es nicht sehn, selbstredend am wenigsten in Bayern. Da haben die Kommunisten eine Anfrage an den Landtag gestellt, ob die Regierung Auskunft über Zweck, Kasernierung etc. des „Notbanns“ geben will und die gibt lieber durch den Staatsanwalt als selber Antwort: läßt nämlich die Redakteure, die die Frage gedruckt haben, wegen „Landesverrat“ prozessieren. Jetzt wird das Ausland natürlich den Verdacht, es könne sich um illegale Dinge handeln, als widerlegt anerkennen.

 

Niederschönenfeld, Sonnabend, d. 21. Juni 1924.

Großes „Jubiläum“. Nach dem Niederschönenfelder Sprachgebrauch heißt es: ich „zerreiße den Zehner“ oder ich werde von heute ab „einspännig fahren“. Mit andern Worten: heute in genau 10 Jahren ist meine Strafzeit herum, ich rechne also jetzt an Jahren nur noch mit einstelligen „einspännigen“ Zahlen. Und grade an diesem, so trübe Aussichten eröffnenden Tag, an dem obendrein das Wetter trotz der Sommersonnenwende in trübstes Regengrau gehüllt ist, winken lachendere Aussichten als je. Aber ich will chronologisch berichten. Gestern kam ein eingeschriebener Brief von Hans mit der Abschrift seines Strafunterbrechungsgesuchs an das Justizministerium. Mir ist dieses Dokument insofern äußerst wichtig, als ich daraus zum ersten Mal ein nicht zunächst für mich bestimmtes ärztliches Gutachten über meine Krankheit zu sehn bekam. Hans hält diese Krankheit für eine vorwiegend psychiche, die sich jedoch auf physische Unregelmäßigkeiten zurückleitet. Er sei mit Dr. Jarresdörffer der Ansicht, daß sich die Herzgrenzen nicht ohne Röntgenisierung bestimmen lassen. Wenn Prof. Port behaupte, er und Aumüller hätten die Grenzen genau festgestellt, so sei zu erwidern, daß auch ein Herzspezialist mit Stethoskop und Abklopfen keine sicherere Diagnose stellen könne als „wir alten Praktiker“. Zudem zitiert er einen Artikel desselben Professor Port, der erst am 30. Mai in der Münchner Medizinischen Wochenschrift erschien, worin er einen Fall erwähnt, wo sich bei der klinischen Untersuchung am Herzen nichts, bei der röntgenologischen ein „Aneurisma“ fand. Die Herleitung der Krankheitserscheinungen von übermäßigem Tabak- und Koffeingenuß läßt Hans absolut nicht gelten. Derartige Symptome werden nach allen Erfahrungen von Kaffee- und Tabakgenuß nicht hervorgerufen. Er beruft sich dann besonders darauf, daß er Kühlewein gegenüber schon vor der Untersuchung durch Port deren Zwecklosigkeit betont habe und beantragt endlich 1 Jahr Strafunterbrechung. Das ganze Gutachten ist sehr geschickt abgefaßt, enthält aber leider einige Unrichtigkeiten durch Übertreibung und zeitliche Gleichsetzung der gegen mich verübten Disziplinierungen. Jedenfalls wird man, wenn man überhaupt sachlich die Ablehnung begründen will, bei solchen fehlerhaften Angaben einhängen, und ich werde Hans grade darüber aufklären, denke aber selbstverständlich nicht im Traume an einen Erfolg dieses Gesuchs. Aber, wenn alles so geht, wie es plötzlich den Anschein hat, dann ist die Möglichkeit gegeben, daß Zenzl, wenn sie Mittwoch auf der Rückreise bei mir vorspricht, mich gleich mit nach Hause nehmen kann. Die Zeitungen bringen nämlich für das zum 24. Juni beginnende Gefasel im Reichstag das Programm, das von Dienstag bis Donnerstag der Woche absolviert werden soll. Als erster Punkt steht da: die Amnestieanträge der Deutschvölkischen, der Sozialdemokraten und Kommunisten. Wenn also, womit allerdings vorerst zu rechnen ist, die Anträge nicht zuerst an den Rechtsausschuß zurückgewiesen werden, so müßten wir in spätestens einer Woche frei sein oder wissen, daß wir wenigstens auf Berlin wieder vergeblich gehofft haben. Unsre Aussichten sind nicht schlecht. Erstens ist wahrscheinlich, daß die Zentrumsleute und Demokraten den goldenen Mittelweg zwischen den nationalsozialistischen und kommunistischen Anträgen, wie ihn der sozialdemokratische darstellt, ganz gern beschreiten werden, dann ist der Konflikt zwischen Zentrum und bayerischer Volkspartei (Marx’ Aeußerung, daß Bayern ein paar Monate Besetzung garnichts geschadet hätten) noch offen, sodaß die Rücksicht auf die bayerische „Hoheit“ keine zu große Rolle mehr spielen wird. Ferner – und das halte ich für besonders wichtig – hat Herriots Regierungsprogramm nicht bloß für die Deutschen, sondern auch für die Franzosen selbst eine umfassende Amnestie in Aussicht gestellt, sodaß ein korrespondierender Akt in Deutschland als außenpolitisch opportun angesehn werden wird. Es gibt also genügend Anlässe, auf die wir spekulieren können. Mir schien aber geraten, auch gleich von hier aus direkt etwas zu unternehmen und so sprach ich Sauber gegenüber den Gedanken aus, wir beide sollten gemeinsam einen Brief an Löbe richten und die verschiedenen Eingaben in Erinnerung bringen, die den Rednern zu der Sache als Material dienen können. Er war einverstanden und ich verfaßte den Schrieb, verwies kurz auf die Strafmethoden, die auch durch die Vereinbarung über die Vereinheitlichung nicht[s] besser oder den in Landsberg geltenden ähnlicher geworden sind und besonders auf die als Broschüre „Standrecht in Bayern“ gedruckte Denkschrift und die Eingabe über die Anwendbarkeit der Reservatrechte von 1871 zur Begründung der Unzuständigkeit der Standgerichte. Dann erinnerte ich an das Versprechen der Kahr-Roth-Regierung von 1920, eine Teilamnestie durchzuführen, was nie geschehn ist und daran, daß diese Regierung nach Bekundung Pöhners selbst durch Hochverrat zustande gekommen sei. Ich bat Löbe, den übrigen Parteien, besonders den Staatsrechtlern (Kahl) von unsern Ansichten Kenntnis zu geben, um ihnen den Entschluß zu erleichtern, unsrer Freilassung zuzustimmen. Nach 4 Uhr nachmittags gab ich das Schriftstück als eingeschriebenen Eilbrief auf. Heute vormittag wurde ich zu folgender Eröffnung heruntergerufen (und zwar zweimal, da die Herren Fetsch und Rainer mich zuerst falsch informiert hatten, nämlich daß das Ding auf Anweisung des Ministeriums an den Adressaten abgesandt sei): „Dem F. G. Mühsam ist zu eröffnen, daß der vom F. G. Sauber mitunterzeichnete Brief an den früheren Reichstagspräsidenten Löbe dem Staatsministerium der Justiz auf seine Anweisung übersandt worden ist.“ Daraufhin habe ich mich sofort wieder hingesetzt, ein Kuvert an das Reichstagspräsidium adressiert, diesem den Tatbestand mitgeteilt und es mit der Begründung, daß unsre Absicht, den Brief noch vor Beginn der Beratung der Amnestieanträge in den Händen Löbes zu wissen, durch die Anweisung des bayerischen Justizministeriums durchkreuzt werde, und mit dem Ersuchen, es sofort dem Adressaten zur Kenntnis zu bringen, mit meiner und Saubers Unterschrift in extenso folgen lassen. Da Schreiben an Volksvertretungen keiner Beschränkung unterliegen (die entsprechenden §§ wurden vorsorglich aufgezählt), muß dieser mit der Aufschrift „Eilt sehr!“ versehene Expressbrief direkt befördert werden, und tatsächlich ist mir bereits mitgeteilt worden, daß er noch heute nachmittag nach Rain gebracht wurde. Der Versuch, uns durch ein Verwaltungsmanöver noch im letzten Augenblick zu hindern, unsre Amnestierung durch eignes Eingreifen zu fördern, wird somit auch gleichzeitig im Reichstag bekannt und wird uns vielleicht extra nützlich sein. – So ist nun also dieser Tag, an dem ich die letzten 10 Jahre Festung beginnen soll, ausgefüllt mit lauter Gedanken und Handlungen, die eine Freilassung in vielleicht schon wenigen Tagen in Betracht ziehn. Es wäre schön. Denn was schließlich in Bayern selbst gesotten wird, ist ganz ungewiß. Man hat noch immer keine Regierung gebildet, und jetzt heißt es, die Deutschnationalen beanspruchen außer der Erhaltung des Justizministers Gürtner auch noch den Posten des Polizeiministers für einen der ihrigen. Das hieße die Abdankung der bayerischen Volkspartei als vorherrschende Macht in Bayern; und ich glaub’s auch nicht, daß es so kommen wird. Für uns wärs jedenfalls das Ende der Amnestie-Aussichten vom Lande selbst aus. – Es gäbe noch vielerlei zu glossieren: so die Ermordung Mateottis und die damit verbundene Mussolini-Dämmerung in Italien. Bei uns im Hause erregt außer den Freiheitsglocken, an die viele jetzt, wo sie so überdeutlich zu läuten anfangen, nicht mehr glauben wollen, der Fall Grönsfelder, des Abgeordneten der Kommunisten schon vom vorigen Landtag her, der plötzlich mit seiner Frau als infamer Spitzel entlarvt sein soll, die Gemüter. Ich finde, man hat sich in solchen Fällen, solange sie nicht vollkommen klar liegen, jedes Urteils zu enthalten. Ich aber hatte heute außer den Sensationen, die mit erregenden Eventualitäten verbunden sind, noch eine kleine Separatfreude: eine Ansichtskarte aus dem Café Stefanie von – Lily Schmidkunz, der bildschönen Frau, die ich vor etwa 15 Jahren verehrte, von der ich seither nie wieder das geringste gehört habe und die mich fragt, ob ich mich ihrer noch erinnere. Eine solche Virtuosin im Küssen habe ich kaum je wieder getroffen. Diese Erinnerung stirbt nicht vor mir selbst.

 

Eröffnung um ½ 4 Uhr: „Dem F. G. Mühsam zur Kenntnis, daß auch das vom F. G. Sauber mitunterzeichnete Schreiben an das Reichstagspräsidium auftragsgemäß dem Staatsministerium der Justiz übersandt wurde.“ Damit ist uns also allen Bestimmungen zum Trotz die Möglichkeit durch Amtsmißbrauch genommen, uns bei den gesetzgebenden Körperschaften um unsre Freilassung zu bemühen.

 

Niederschönenfeld, Sonntag, d. 22. Juni 1924

Vormittag. Ich will, ehe er vollständig aus dem Gedächtnis entschwindet, den Traum der letzten Nacht festhalten und zwar zur Prüfung abergläubischer Einbildungen. Als ich gestern abend im Bett die Gedanken um die Möglichkeiten und Zweifelhaftigkeiten der nahen Befreiung kreisen ließ, nahm ich mir vor zu glauben, daß ein Traum, falls sich einer einstelle, mir als Vorbedeutung gelten solle; falls ich nicht träume, so sollte das ein ungünstiges Zeichen sein. Da ich in der letzten Zeit verhältnismäßig wenig geträumt habe, stellte ich also Bedingungen mit mehr negativen als positiven Aussichten, zumal ja auch der Inhalt des evtl. Traumes selbst zu pessimistischen Deutungen Anlaß geben konnte. Um ¾ 6 wachte ich auf und rekonstruierte sofort den Traum mit dem Bewußtsein, daß er zwar nicht unmittelbar vorher, aber doch erst in den Morgenstunden geträumt war. Dann fiel mir plötzlich auf, daß die Wanduhr über dem Kopfende meines Bettes nicht tickte und überzeugte mich, daß sie stehn geblieben war. Ich stand, da ich ohnehin urinieren mußte, auf und fand, daß die unter der Uhr hängende Hausordnung, die ich gestern bei der Feststellung des im Brief ans Reichstagspräsidium angezogenen Paragraphen heruntergenommen hatte, den Pappdeckel bauschte, und daß daran das Uhrgewicht nicht vorbeikonnte. Die Uhr stand auf 4¼ Uhr, und ich bildete mir ein, um diese Zeit hätte sich mein Traum abgespielt. Der erste Teil des Traumes – der einzige, mit dem Freud sich wohl keinen sonderlichen Schwierigkeiten gegenüberfände, um sein Schema F der Deutung aus nur sexuellen Symbolen anzuwenden – ist mir nur noch in wenigen prägnanteren Momenten erinnerlich, aber auch da sehe ich keine Verbindung mit dem selbst gestellten Traumthema. Ich war, mit wem weiß ich nicht – nur an eine Frau erinnere ich mich, die mit mir verwandt war, Tante oder Cousine – äußerlich ist sie mir noch im Gedächtnis, blond, ältlich, jungfermäßig, spitzig* – vor Jahrmarkts- oder Rummelplatzbuden. Ich sehe einen Restaurant-Eingang**, bei dem sich Gespräche, Szenen, Vorgänge abgespielt haben, die ich vergessen habe. Meine Begleiterin wollte eine Bude besuchen, die mir als eine Art Turm, zu dem hohe Treppen hinaufführten, erinnerlich ist. Ich wollte nicht mit und ließ sie allein hinaufgehn. Erst nachher ging ich ihr nach und fand sie zwischen einer Schar offensichtlich aus 2 Gruppen zusammengesetzter Menschen, die fürchterlich auf sie losprügelten und sie schrecklich zausten. Ich befreite die Verwandte aus den Händen der Leute und sie berichtete, daß die sich untereinander verprügelt hätten und als sie schlichtend dazwischentreten wollte, sich gemeinsam auf sie gestürzt hätten. Jetzt weiß ich nur noch, daß ich es für ganz in Ordnung erklärte, wenn sich zwei feindliche Gruppen die Friedensstiftung von Unberufenen nicht gefallen lassen und gemeinsam auf den Schlichter loshauen. Dann befand ich mich mit andern, die ich nicht angeben kann – auch die Cousine tauchte nicht wieder auf – auf dem Wege von dem Rummelplatz zu einem Haus in der Nähe eines Flusses, vor dem sehr viele Menschen gedrängt standen. Es hieß, die Wasserleiche eines grade zuvor in dem Fluß Ersoffenen sei dort ausgestellt. Wir kamen vor ein Fenster, hinter dem an einem Tisch mit in die Hand gestütztem Kopf ein Mann mit großem breitem aschgrauem Vollbart saß. Das war die ausgestellte Leiche. Aber kaum, daß ich hingeschaut hatte, sah ich, daß der Tote den auf den Tisch gestützten Arm mit der Hand am Bart seitwärts senkte und ich sagte: „Der ist ja garnicht tot, der ist höchstens scheintot. Eben hat er den Arm bewegt.“ Gleich darauf stand hinter ihm ein andrer Mann, ebenfalls mit großem breitem, aber eisgrauem Vollbart, der dem andern helfen zu wollen schien, und der – die Wasserleiche – begann jetzt mit der Brust zu arbeiten, als ob er Wasser hochpumpen und ausbrechen wollte. Da war mit einem Mal mein Bruder Hans bei mir, er drängte sich durch die Menschenmassen hindurch und erschien nun gleichfalls im Zimmer bei dem Ersoffenen. Der stand auf und ging hinaus durch die dem Fenster gegenüberliegende Tür. Ob Hans und der alte Eisgraue, der von da ab verschwunden war, mit ihm gingen, weiß ich nicht mehr. Ich sah aber jetzt ganz dicht links eine rohe gelbe Holzbude neben mir, schmal wie ein Schilderhaus, aber ringsum geschlossen, ein öffentlicher Abtritt anscheinend. Dahinein ging jetzt der aschgraue Ertrunkene. Neben mir sagte jemand: „Der kommt nicht wieder heraus. Da drinnen stirbt er.“ Und ich erwiderte: „Im Gegenteil, er speit sich gehörig aus. Hört doch!“ Und dann hörte man den Mann in der Bude rumoren und unter starken Geräuschen Wasser aus sich herauswürgen. Hans stand wieder bei mir. In welchem Zusammenhang das Gespräch mit ihm folgte, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls ging es noch zurück auf die ärztlichen Bemühungen meines Bruders um den Ertrunkenen. Er sagte, er danke dafür, sich ein paar Jahre Festung geben zu lassen, mindestens wolle er dann auch Entsprechendes verbrochen haben, – und ich erinnerte dann an meine 15 und an Fritz Reuters 7 Jahre, die auch grundlos gegeben worden seien. Darauf lachte er und stimmte zu. Dann kam der Alte wieder aus dem Lokus zum Vorschein und entfernte sich durch die Menge nach links vorn. Ich wollte ihm nach und nun war plötzlich mein Schwager Julius Joël da und hielt mich zurück. Der Mann dürfe um alles in der Welt jetzt keine politischen Unterhaltungen führen, das wäre sein Tod. Deshalb dürfe ich unter keinen Umständen mit ihm gehn. Er selbst wolle ihn begleiten. Er folgte ihm und die beiden gingen miteinander fort. – Damit endete der Traum. Für mich ist die Deutung völlig klar, allerdings keine Freudsche. Wenn ich in dem aschgrauen Alten mich selbst symbolisiert sehe und das Ganze mit der Amnestieaussicht, ihrem mehrfachen Ersaufen, ihrem gegenwärtigen Wiedererwachen und ihre Inkurnahme im parlamentarischen Scheißhaus, wo sie sterben oder frei herausgehn kann, in Verbindung setze, ferner die Gefahr durch politische Unterhaltungen und die ärztlichen Bemühungen um die Rettung erwäge, so ist ja das Kunststück nicht allzugroß, einen „Wahrtraum“ aus dem Bilde zu machen. Nur haben meine „Wahrträume“, die ich mir früher schon manchmal eingebildet hatte, bisher immer das Mißgeschick gehabt, niemals über den Traum hinauszukommen. Vielleicht wird er aber dieses Mal Wirklichkeit.

 

* Ähnlichkeit mit Josefa Metz

** mit hoher Treppe wie Casa picola in Wien (1906)

 

Niederschönenfeld, Dienstag, d. 24. Juni 1924

Zenzl hatte meinen Brief an Resls Adresse, worin ich ihr mitteilte, daß heute im Reichstag die Amnestiefrage erörtert werde und sie deshalb lieber erst Mittwoch kommen solle, nicht mehr bekommen, und so war sie schon gestern hier. Der überwachende Beamte ist etwas schwerfällig in seiner Auffassungsgabe, und so konnte ich, ohne daß er merkte, worum es sich handle, Zenzl begreiflich machen, wie es mir mit den Eilbriefen an Löbe und das Reichstagspräsidium gegangen ist und, da sie schon ein Schlafwagenbillet für den Nachtschnellzug von Augsburg hatte, veranlassen, daß sie heute früh gleich vom Bahnhof aus in den Reichstag wollte, um Löbe persönlich zu informieren. So kann der haarsträubende Eingriff in die von der Reichsverfassung verbürgten und vor 2 Jahren von Bayern auf Beschwerde der Reichsregierung endlich anerkannten Rechte (ich habe Zenzl auch gebeten, Löbe auf § 339 ST. G. B. aufmerksam zu machen, – dann wisse er schon Bescheid), wenn Löbe will, grade noch im entscheidenden Augenblick gegen die Behörde benutzt werden, die damit versucht hat, nicht bloß Gefangenen, die sie seit über 5 Jahren gesetzwidrig malträtiert, den letzten Hilferuf zu ersticken, sondern zugleich den Reichstag im Moment einer gesetzgeberischen Funktion zu hindern, sich noch objektiv über alle Für und Wider zu unterrichten. Zenzl sah zwar wie immer hübsch und viel jünger aus als ihre 40 Jahre rechtfertigen könnten, aber doch sehr angestrengt. Sie hat auch jetzt wieder in München ihre unermüdliche Liebe in zähe Energie umgesetzt, war noch einmal bei Kühlewein, mit dem sie über die Strafunterbrechungsaussichten sprach. Selbstredend war der Herr wieder sehr freundlich und gab nicht zu, daß die Sache schon negativ entschieden sei. Wenn ich darauf spekulieren sollte – du lieber Himmel! Aber sie hat auch mit Hermann Bahr gesprochen, der in seiner merkwürdigen Wandlung vom Nietzscheaner zum stockkatholischen täglichen Beichtgänger nun politisch bei den Völkischen steht. Trotzdem war er sehr nett und tief gerührt über Zenzls Bericht und erregte sich, wie jeder anständige Mensch, der davon hört, sehr über die Formen, in der wir seit 3 ¾ Jahren jedes Wiedersehn begehn müssen. Er erklärte sich bereit, mit dem Kardinal Faulhaber zu sprechen, und das soll er nur tun. Der Mann ist über die Kulturkampfsprünge Ludendorffs und speziell dessen Angriffe gegen seine eigne Person sicher so empört, daß er die Ungerechtigkeit, die in der verschiedenen Art der Behandlung gegen politische Gefangene in Bayern liegt, und die längst die ganze zivilisierte Welt in Empörung hält, jetzt auch besser als früher empfinden wird, zumal Arco ja ohnehin frei ist (und bei den ganz frommen Bayerischen Volksparteilern in Bezirksversammlungen als Redner auftritt, in den Einladungen angekündigt als „unser Nationalheld“. Es ist also auch bei den allerfrömmsten Christen so, daß Mord und Mord was Verschiedenes ist, je nachdem wer der Mörder und wer der Ermordete ist). Jedenfalls freut es mich, daß Bahr bei all seinen sonderbaren politischen und kulturellen Umkostümierungen doch immer ein anständiger Kerl bleibt und über mich ebenso freundlich urteilt wie immer. Zenzl konnte 5 Stunden bleiben. Wie innig habe ich beim Abschiedskuß gewünscht, es möge endlich ihr letzter Besuch in Niederschönenfeld gewesen sein! Diese dauernde Seiltanzerei bei jedem Wort, das man spricht, ist eine infame Quälerei und läßt nie ein wirklich zusammenhängendes Gespräch aufkommen, ja verhindert selbst stets, daß wir auch nur das sagen, was wir schon sagen dürfen. Man vergißt über dem ständigen Vorsichtigsein die Hauptsache dessen, was man hatte erörtern wollen. So geht’s mir wie ihr regelmäßig. Und trotz der Überwachung vor und nach jedem Besuch das Abstreifen! Das ist das Ekelhafteste von allem. Die Lippen sind noch feucht vom Abschiedskuß, dann muß man die Pfoten eines Fremden sich über Rock und Beine fahren lassen. Es ist eine seelische Beschmutzung sondergleichen und dabei absolut zwecklos und nur zur Entwürdigung des Menschen bestimmt. Selbstverständlich fühle ich nicht mich, sondern den Beamten, der sich zu diesem widerlichen Dienst erniedrigen muß, entwürdigt. Die Wirkung auf mich ist einfach die eines körperlichen Ekelgefühls und der Wut darüber, daß man extra Vorrichtungen geschaffen hat, dieses Ekelgefühl vor und nach jedem Besuch der Frau durch die leibliche Betastung von dafür bezahlten Männern zu erregen. – Heute also kann sich unser Schicksal entscheiden. Mich amüsiert sehr die Beobachtung, wie jeder Genosse hier – mag er’s zugeben, mag er sich als „wissenschaftlich“ überlegen verstellen – sich gelegentlich verrät, daß er irgendwelche Orakel befragt, so ähnlich wie ich es vorgestern mit dem Traum tat. Besonders scheint die Witterung als Zukunftsmelderin bevorzugt zu werden; mehrere Genossen machten mit lächelnder Miene Andeutungen, die mir ganz genau verrieten, was in ihnen vorging. Nun war das Wetter in den letzten Tagen recht trostlos, kalt, windig, regnerisch, trübe, blicklos. Heute teilen sich die Wolken und grade jetzt kommen die ersten großen Flächen blauen Himmels zum Vorschein. Nehmen wir es also als äußeres Zeichen eines schicksalhaften Vorgangs. Wahrscheinlich wird wohl der Reichstag heut und morgen noch keinen Beschluß fassen, sondern die Sache erst zur Zurechtstampfung eines annehmbaren Kompromisses zwischen den Anträgen von rechts und links dem Rechtsausschuß zuweisen. Ich denke mir, daß schließlich eine – vielleicht von der Mitte her (Kahl?) kommende – Einigung etwa auf der Basis zustandekommen wird, daß alle Hochverratsvergehen amnestiert werden und ferner die mit den Lebensmittel- und Inflationskatastrophen unmittelbar zusammenhängenden Sachen sowie die Verstöße gegen das Republikschutzgesetz und die Parteiverbote. Die Landesverratssachen wird man dann wohl einer besonderen Regelung überlassen, um alle Einerseits-Andrerseits-Bedenken irgendwie einzurenken: daß Fechenbach und seinesgleichen frei wird, die Verfahren gegen Quidde etc aus der Welt kommen, aber die großen Sachen, für die man eine so ungeheure Empörung inszeniert hat, nicht mit betroffen werden. Schließlich kommt es rechts ja darauf an, Jagow, die Küstriner und die Hitlerleute rauszubekommen, links, uns, Hölz und die andern Opfer der ausgesprochenen Klassenjustiz freizukriegen. Zenzl wird mir sofort telegrafieren: ob ja oder nein oder Ausschußverweisung, und falls ja, wann das Gesetz in Kraft tritt. Das wird voraussichtlich bei der Verkündung sein, und dann wäre noch Zeit für sie, mich hier abzuholen. Hoffen wir, hoffen wir!

 

Niederschönenfeld, Mittwoch, d. 25. Juni 1924

Meine unvergleichliche Frau hat ihr Versprechen gehalten. Vor Tisch wurde ich hinuntergerufen und mir der Wortlaut eines Telegramms vorgelesen, das, von meiner Frau aufgegeben, soeben von Rain hertelefoniert sei. Inhalt: „Amnestieantrag an Rechtsausschuß überwiesen.“ Ich halte das für günstig. Es bedeutet doch wohl, daß prinzipiell die Absicht besteht, tatsächlich eine Amnestie zu erlassen. Der Ausschuß soll eben die Formel finden, wie man den Pelz wäscht, um die dicksten Läuse darin totzumachen und ohne ihn allzu naß werden zu lassen. Die meisten Genossen sind ebenfalls optimistisch, und ich befinde mich bei der Beurteilung der Situation zur Zeit am meisten in Übereinstimmung mit Sauber, an dem ich schon seit geraumer Zeit eine ganz merkwürdige innere Krise beobachte. Dieser unkritischste aller Herolde seiner Partei, der rechts, links, hü, hott jede Dummheit und jede Infamie billigte, aus orthodoxem Fanatismus die unglaubliche Schweinerei mitmachte, die Weihnachten 21 gegen Zenzl und mich (die 26000 Mark-Geschichte) inszeniert wurde, – dieser Mann wird plötzlich kritisch nicht bloß seiner eignen Partei, sondern sogar deren Allerheiligstem gegenüber: der Moskauer Regierungskunst und der Weisheit der 3. Internationale. Sicher ist die persönliche Enttäuschung dabei ein starker Faktor, denn er hatte als langjähriger politischer Gefangener und als ein Mensch, der 1918/19 immerhin als Vorsitzender des bayerischen Landessoldatenrats eine wichtige Rolle gespielt hat, ein Recht anzunehmen, daß man ihn als Kandidaten für die Reichstagswahlen an sicherster Stelle aufgestellt hätte, was ihm auch zugesagt war. Er ist kläglich im Stich gelassen worden. Die KPD, die „antiparlamentarische“ Partei, die behauptet, das Parlament diene ihr nur als Propagandatribüne, und die garkeine bessere Demonstration damit verbinden könnte, als ihre politischen Gefangenen, speziell die bayerischen, massenhaft auf die Immunität Anspruch erheben lassen zu können, hat gezeigt, daß ihr die Drängelei um die Diätenkrippe nicht weniger den Inhalt der Wahl-„Taktik“ ausmacht, wie allen andern Parlamentsgruppen auch. Von hier wurden zwar Sauber und Olschewski aufgestellt, aber so, daß beide nicht zum Zuge kamen. Sauber hat dadurch einen schweren inneren Klaps bekommen. Allerdings glaube ich nicht, daß die Wandlung in ihm durch diesen Schlag verursacht ist, aber zum Ausbruch gebracht doch wohl, „hervorgerufen“. Es ist ja sehr menschlich, das persönliche Schicksal mit seinen subjektiven Wünschen und Befürchtungen zum Barometer des Weltgeschehens zu machen. Ich sehe es wieder so deutlich bei der Beurteilung der Amnestieaussichten. Am optimistischsten sind wir – ich nehme mich durchaus nicht aus –, die wir der Wiedervereinigung mit unsern Frauen ohne jede Trübnis entgegensehn; und hier eben ist der Punkt, wo ich und Sauber uns tatsächlich in derselben Lage befinden. Nächst Zenzl ist seine Liesl wohl von allen Festungsfrauen die charakterfesteste. Den größten Pessimismus legt Zäuner an den Tag, – und zwar war er solange optimistisch, bis seine Ehe vor einigen Wochen den großen Riß bekam. Wieder so ein Fall, in dem die christliche Barmherzigkeit der bayerischen Justiz den „Strafzweck“ in diesem Punkt erreichte: dem Sakrament der Ehe Versuchungen aufzuhängen, denen es trotz allem Kirchengeplärr nicht standhält. Dem armen Sepp ist wenige Monate vor Ablauf seiner 3½ Jahre sein Glück zerplatzt, – und grade in diesen Tagen bekam er – nach 7 Wochen! – den Bescheid, daß der Urlaub, den er für 2 Tage erwarb, um womöglich die Scherben wieder zu leimen (er hat sich in der ganzen Sache seiner Frau gegenüber auf einen höchst generösen Standpunkt gestellt) – abgelehnt sei. Das goldne Münchner Herz! Also unser Zäuner ist Pessimist und prophezeit wie eine Kassandra. – Jetzt muß ich abbrechen, nachdem ich schon vor 1½ Stunden die Eintragung plötzlich unterbrechen mußte. Man rief mich zum Baden (diese Bäder, wöchentlich 2x tun mir sehr gut; die Bromural-Tabletten erhielt ich nur die erste Woche nach der letzten Untersuchung durch Dr. Aumüller). Als ich mit dem Bad fertig war, und wieder in meine Zelle wollte, stand der ganze Gang voll mit meinen Sachen. Der Putzteufel war erwacht, und es wurde eine mittelgroße Reinigung vorgenommen, die über 1 Stunde gedauert hat. Das Politische muß also wieder mal zurückgestellt werden. Wie lange muß ich noch meine Zeiteinteilung von andern Leuten bestimmen lassen?

 

Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 26. Juni 1924

Über Nacht ist unser gestern noch so hochgeschwellter Mut wieder arg niedergestimmt worden. Das Quecksilber des Amnestie-Barometers ist, nachdem wir jetzt den Bericht über die Diskussion im Reichstag gelesen haben, beträchtlich gesunken. Zwar finde ich nicht, wie fast alle andern, daß uns schon alle Felle davonschwimmen müßten, immerhin sieht die nächste Zukunft wieder ziemlich umwölkt aus. Für die Sozialdemokraten sprach Sänger, der Mann, der seinerzeit im Landtag sein Gemüt mit der Äußerung bloßlegte: er wünsche Leuten wie Arco und Lindner nicht wieder auf der Straße zu begegnen. Jetzt hat er denn auch im Reichstag gegen Arcos Freilassung gesprochen und zum Ausgleich nicht etwa die Lindners verlangt, sondern die Fechenbachs. Allerdings hat er diesmal auch für uns Räterepublikaner plädiert, aber ich habe nach dem Auszug, den die Frankfurter Zeitung bringt, das Gefühl, ihm liege nur an der Annahme des Antrags, daß die Urteile der bayerischen Volksgerichte nachgeprüft werden sollen. Der „Vorwärts“ veröffentlicht jetzt die in den sozialdemokratischen Anträgen vorgesehenen Ausnahmen: sie sind so, daß selbst bei Annahme ihrer Vorschläge die weitaus meisten politischen Gefangenen weiterhin sitzen müßten. Verbrechen gegen das Leben (also die Genossen vom Luitpoldgymnasium, Lindner, Hölz), Gewalttätigkeiten und Sprengstoffvergehn (Ferry) sollen nicht amnestiert werden. Aber das, was übrig bleibt, ist der Reaktion immer noch zuviel. Die Völkischen wollen nur die letzten Beteiligten vom Kappputsch (Jagow, Pabst, Bauer etc) die vom Küstriner Buchruckerputsch und die vom Hitlerputsch freihaben, und Dr. Roth hatte die Stirn, bei seiner Jungfernrede ausdrücklich zu erklären, daß man sich in seinem Lager für unsre Befreiung bedanke, auch erklärte er, Leviné sei zu Recht von der Kugel getroffen worden. Auf diese Provokation des patriotischen Malzschiebers kam es zur Keilerei und zur Unterbrechung der Sitzung. Scholem ließ die übliche kommunistische Schimpfkanonade los, wird aber wohl sachlich auch manches gesagt haben, was die Zeitungen nicht drucken. Von den Mittelparteien gab nur Fehrenbach fürs Zentrum die Erklärung ab, man werde im Rechtsausschuß zu den einzelnen Anträgen Stellung nehmen, und für das Reichsjustizministerium erklärte ein Regierungsrat Joel, die Regierung sei grundsätzlich ziemlich wenig geneigt, alle Augenblicke Amnestien zu erlassen (das alte Argument: als ob wir in diesen 5 Jahren schon ein Dutzendmal amnestiert worden wären!), im übrigen würde man im Einzelnen gern entgegenkommen und bestimmte Fälle gnädig nachprüfen. Die Regierung behalte sich ihre Stellung vor. Der Vorschlag, die Sache dem Rechtsausschuß zu übergeben, kam von Herrn Walraff, dem Präsidenten. – Danach kann man garnichts voraussagen. Am interessantesten scheint mir bei der Auseinandersetzung ein negatives Moment, nämlich daß sich die ganze Erörterung, die sich hauptsächlich um bayerische Verhältnisse drehte, unter völligem Schweigen der christkatholischen bayerischen Volkspartei abwickelte. Wahrscheinlich hatten die Herren von dem unter endlosen Geburtswehen nach 11 Wochen glücklich ans Licht gekrochenen neuen bayerischen Ministerpräsidenten noch keine Ordre, wie die Amnestiefrage in Hinkunft in Bayern behandelt werden soll. Dieser neue Regierungschef ist Herr Held selber, der eigentliche spiritus rector der klerikalen Politik in Bayern seit langem. Wer seine Ministerkollegen sein werden, ist noch ungewiß. Nur soweit weiß man, daß je ein Deutschnationaler (wieder für die Justiz!) und (für die Landwirtschaft) ein Bauernbündler* hinein sollen, daß im Handelsministerium außerdem der Deutschnationale Meindel als Staatssekretär bleibt und daß das Koalitionsprogramm im Gegensatz zu der von der Bayerischen Volkspartei ausgegebenen Parole: Liquidation der Katastrophe vom November 1923 jetzt heißt: Überwindung des Umsturzes von 1918 und aller seiner Wirkungen und Folgen. Das heißt ins Deutsche übersetzt: die ganze Politik wird in den Dienst der monarchistischen Restauration gestellt, und wenn man die täglichen Berichte liest von Regimentsfeiern, Fahnenweihen, patriotischem Klimbim aller Art, wobei sich jedesmal ein Wittelsbacher Prinz oder deren mehrere zum Anheilen präsentieren, dann erkennt man deutlich die Regie ad usum Delphini Ruperti. Für unsre persönlichen Interessen scheint mir die Lösung der bayerischen Regierungsfrage nicht sehr von Belang zu sein, die Annahme der deutschnationalen Programmformel: gegen die Novemberverbrecher von 1918, nicht die von 1923 läßt höchstens den Schluß zu, daß man Hitler und die Seinen amnestieren will, wobei für uns zweifellos auch was herausspränge. Im Ganzen glaube ich, daß, falls der Reichstag tatsächlich keine Amnestie erläßt, sondern bloß wieder einzelne Fälle nach Ermessen der Justizminister aus der Welt schafft, er mindestens jetzt die schon vor einem Jahr vorgeschlagene Regelung annehmen wird, daß das Reich Bayern nahelegt, endlich die Räterepublikaner freizugeben. Dann hat man die „Hoheits“-Empfindlichkeiten geschont, und es ist mit Sicherheit anzunehmen, daß Held die goldene Brücke betreten und hieraus keine neue Verstimmung ableiten lassen wird. Denn in dem Konflikt zwischen Bayerischer Volkspartei und Reichszentrum finden schon Einigungsbesprechungen statt, und daß Bayern in diesem Punkt der schwächere Teil ist und sich als solcher fühlt, erkennt man aus zahlreichen Anzeichen, so auch aus dem Satz in der Erklärung der Parteipresse zur Regierungsbildung, daß ein Zusammenarbeiten mit den Reichsinstanzen gefördert werden soll. Vorderhand ist die Amnestiefrage nicht bloß für uns der wichtigste Gegenstand, sondern die große Parole der Kommunisten, die speziell mit meiner Erkrankung in großem Umfang agitatorisch arbeiten. Ich habe deswegen nichts dagegen, weil ich glaube, daß so ein Einzelfall mancherlei Interessen für den ganzen Komplex wecken kann. Interessant ist mir die Meldung eines kommunistischen Blattes, die Kommunisten im Lübecker Bürgerausschuß hätten zu meinen Gunsten den Antrag gestellt, der Lübecker Senat solle bei der bayerischen Regierung für meine Freilassung plädieren, was mit meiner Eigenschaft als Lübecker begründet wird. – Was die äußere Politik anlangt, so muß sich in den allernächsten Tagen alles entscheiden, je nachdem, ob die einmalige gründliche Militärkontrolle der Alliierten Kommission angenommen oder verweigert wird. Herriot und Macdonald, die in der letzten Woche eine Zusammenkunft hatten, haben zusammen eine Note an Marx losgelassen und ihm dringend nahegelegt, Ja zu sagen. Als Egoist müßte ich sehr wünschen, sie tun es – und das Wahrscheinliche ist es –, denn dann müßte die Versöhnungsgeste der Amnestie doch wohl folgen. Als Revolutionär kann ich nur wünschen, die Nationalisten setzen die Verweigerung durch. Dann gibt es politisch und wirtschaftlich einen derartigen Krach im Lande, daß man doch hoffen könnte, die Arbeiter sollten sich einmal ermannen und trotz des Geschwafels ihrer sozialdemokratischen und kommunistischen Parteischieber, trotz aller Parolen und Kommandos aus Moskau und Berlin das tun, was ihnen selbst aus dem Herzen zu tun drängt. Dann müßten wir wohl noch weiter in diesem Käfig hocken bleiben, aber in der Hoffnung, auf würdigere Form befreit zu werden als durch Parteikompromisse und Parlamentsschacher. Jetzt gilt’s mehr als je, Geduld und Mut behalten.

 

* Fehr

 

Niederschönenfeld, Samstag, d. 28. Juni 1924

Bis Mitte Juli werden wir jetzt wohl mindestens warten müssen, ehe wir über Sein oder Nichtsein weitere Kenntnis erhalten. Im Rechtsausschuß des Reichstags, dem jetzt der „linke“ Kommunist Katz präsidiert – nachdem er erst von den Bürgerlichen peinlich befragt war, ob die Erklärung der KPD, die Geschäftsordnung der Parlamente kümmere sie nicht, ernsthaft gemeint war, worauf er natürlich, da er sich für die neue Würde schon mit seinem Cutaway-Rock geschmückt hatte, die Versicherung unverbrüchlicher Loyalität abgab – also im Rechtsausschuß stellte Rosenfeld für die Sozi den Antrag, die Amnestieanträge gleich letzten Mittwoch zu behandeln, da sie besonders eilig seien. Diesem Antrag widersprachen die Völkischen und Deutschnationalen, denen Katz erklärte nachgeben zu müssen, worauf die Sache vertagt wurde. Ich betrachte jedoch die Verzögerung als ein sehr günstiges Zeichen. Die Völkischen und Deutschnationalen haben für ihre Leute ebenfalls Amnestieanträge eingebracht und müssen sich sagen, daß die Herren Hitler, Buchrucker, Jagow e tutti quanti die Zeitungen auf dieses Thema hin ebenso eifrig absuchen wie wir und sicherlich noch heftiger als wir auch auf 14 Tage mehr oder weniger geizig sind. Wenn die Herren den Ausschuß trotzdem zur Vertagung der Sache veranlassen, so kann das nur einen Grund haben: Sie taxieren die Aussichten ihrer Anträge weniger günstig als die der Sozialdemokraten und möchten Zeit für Vorverhandlungen hinter den Kulissen gewinnen, d. h. den Sozi und Kommunisten Kompromißpolitik vorschlagen. Wahrscheinlich ist ihnen Roths Plumpheit selber auf die Nerven gegangen. Roth hat übrigens mich zu einem Brief an den Reichstagspräsidenten veranlaßt. Als ihm von den Kommunisten zugerufen wurde: Mühsam! soll er gesagt haben: „Mühsam geht Sie garnichts an. Der hat sich selbst als Edelanarchist bezeichnet.“ Ich habe diese ekelhafte Unterstellung, die mich seit 20 Jahren verfolgt, noch einmal richtig gestellt, um endlich davor Ruhe zu bekommen, daß man meine Gesinnung durch eine wohlwollend-schmunzelnde Charakterisierung verdächtigt und mich selbst dafür zum Kronzeugen macht. – Heute will ich nun eine Eingabe an den Verfassungsausschuß des bayerischen Landtags abfassen, die von Sauber mitunterschrieben und in Abschrift an den Rechtsausschuß des Reichstags (und an Pestalozza) gehn soll und worin gegen die Verhinderung unsrer nach der Reichsverfassung und den bayerischen Verordnungen garantierten freien Korrespondenz mit den Volksvertretungen protestiert werden soll. Bis jetzt hat man mir weder durch Zurückgabe noch durch Quittung über die Postaufgabe Bescheid geben, was das Ministerium über die Briefe an Löbe und Walraff verfügt hat. Wann sich nun allerdings der bayerische Landtag mit unsern Angelegenheiten wird beschäftigen können, steht ganz dahin. Gestern sollte er zusammentreten, um Held als Chef der neuen Regierung zu bestätigen. Aber kaum war die Zangengeburt dieser Regierung am Licht, da erwies sie sich schon als Fehlgeburt. Die Deutschnationalen haben in einem Artikel des Bayerischen Kuriers ein Haar gefunden, in dem auseinandergesetzt war, die Ausschiffung Schweyers und Übernahme Gürtners durch Held bedeute einen glatte Kapitulation der Bayerischen Volkspartei. Jetzt verlangten die Deutschnationalen, Held solle in aller Form von derartigen „ungeheuerlichen Quertreibereien“ abrücken, widrigenfalls sie die Bedingungen der Koalition nicht mehr als gegeben ansehn können. Allem Anschein nach will aber Held doch nicht noch tiefer unter das kaudinische Joch, und so weiß man nicht, was weiter wird. Ich denke mir, sie werden sich schon wieder zusammenfinden. Die Erpressung der Nationalisten wird endlich doch gelingen, denn mit andern Parteien besteht für die Klerikalen kaum Aussicht, das Konkordat durchzubringen. Andrerseits ist große Eile, denn am 3. Juli treten in Berlin die Ministerpräsidenten zusammen, um sich über die Maßnahmen zur Vorbereitung der Gesetze zu den Dawesberichten zu einigen. Inzwischen – bis zum 30. Juni – muß die Militärkontrollnote beantwortet sein, und daß sie bejahend ausfällt, ist sicher trotz des Getöses der Nationalisten, die schon mit Sabotage- und Gewaltakten drohen. Denn die kapitalistischen Regierer Deutschlands wollen das Land „sanieren“ und dazu ist die Annahme der Kontrolle conditio sine qua non. Ferner läßt ein Umstand erkennen, daß Herriot schon feste Zusagen in der Tasche hat, nämlich die schon in Kraft gesetzte Anordnung der Rückkehr der Ausgewiesenen und Freilassung der Gefangenen von der Ruhrokkupation her. Und diese Versöhnungsgeste der Franzosen läßt wohl auch hoffen, daß bei der endgiltigen Entscheidung über unsre Amnestierungen des guten Eindrucks wegen die Annahme erfolgt. Der Reichstag hat diesen „Tagungsabschnitt“ nun beendet. Wenn die Gesetzentwürfe zu den Dawesplänen fertig sind, tritt er wieder zusammen, vermutlich Mitte Juli. Ich glaube bestimmt, daß sein Erstes dann das Ja oder Nein über das Ende unsrer Qualen sein wird. Zu Zenzl 40. Geburtstag (28. Juli) möchte ich bei ihr sein.

 

Niederschönenfeld, Sonntag, d. 29. Juni 1924

Ich bin leider wieder krank. Diese verteufelte Herz- oder Blutzirkulations- oder Nikotin- oder Coffeinsvergiftung oder Hypochondrie- oder Psyche-Erkrankung ist seit gestern wieder florid, diesmal wieder in etwas veränderter Weise, wie die Symptome bei jedem neuen Anfall eigene Charakteristika zeigen. Diesmal ist die große Schwäche und das Gefühl der Unstabilität verbunden mit einem leichten Darmkatarrh, der sich nicht als Diarrhöe sondern nur als ungewöhnlich häufiger Stuhldrang in Erscheinung setzt, wobei die Konsistenz der Entleerungen kaum vom Normalen abweicht. Aber täglich 3, 4 oder auch 5mal Stuhlgang geht langsam an die Kräfte. Vorgestern abend – die häufige Lokus-Frequentierung war schon mehrere Tage da – spürte ich die ersten Anzeichen meiner eigentlichen Krankheit. Ich simulierte wieder Gesundheit, bis gestern Nachmittag keine Verheimlichung vor den Genossen mehr möglich war. Heute war gegen Mittag wieder ein Höhepunkt mit lebhaften Auflösungsempfindungen. Doch ist es jetzt – 5 Uhr – erheblich besser. Könnte ich jetzt ein paar kräftige Schnäpse trinken, wäre es gleich eine große Erleichterung. Aber seit 2 Monaten ist uns ja der Schnapsgenuß, der niemals zu den geringsten Mißbräuchen geführt hat, verboten, und seitdem kriegen wir auch Weinflaschen nicht mehr im ganzen herauf, sondern müssen sie uns quartweise unten abmessen lassen. Selbst wenn 4 oder 5 Mann miteinander eine Flasche trinken wollen, muß jeder ein Quartgefäß herunterbringen, sodaß der Wein natürlich für eine kultivierte Kehle ungenießbar wird. – Die Eingabe an den Verfassungsausschuß des Landtags und die Abschrift an den Rechtsausschuß des Reichstags sind fertig. Ich bin recht neugierig, ob man es soweit treiben wird, die eignen Zugeständnisse, die in offiziellster Verordnungsform gegeben sind, zuschanden zu schlagen, nur um den Reichstag zu verhindern, ein Gesetz zu erlassen, das Münchner Eigenartisten verstimmen und verhaßten politischen Feinden nützen kann. – Hoffentlich hält die leichte Besserung in meinem Befinden an, und es war diesmal nur ein Schreckschuß. Die Probe von heute Mittag langt mir fürs Erste. Wiederholt sich das, dann können mich alle ärztlichen Versicherungen, daß keine Lebensgefahr vorhanden sei, nicht von der Vision befreien, über das Krematorium in die Heimat zurückzugelangen. Arme Zenzl – lieber nicht!

 

Niederschönenfeld, Montag, d. 30 Juni 1924

Mir geht es entschieden besser, wenn auch mein Zustand noch keineswegs wieder normal, selbst nicht bloß einfach verstimmt ist. Aber die Anfälle treten mit längeren Unterbrechungen auf und ich vergesse zeitweilig, daß nicht alles stimmt. Heute früh hat mich der Sandtner Gustl massiert, was mir, wie es scheint, sehr gut getan hat. Aber zum Täglichen: ich lag noch im Bett, da kam Herr Fetsch herein und las mir folgende Eröffnung vor: [„]Dem F. G. M. zur Eröffnung, daß seine Schreiben an Herrn R-Abg. Löbe und an das Reichstagspräsidium vom Staatsministerium der Justiz am 23. Juni abgesandt worden sind. Die Nachweise befinden sich im Postbuch des Staatsministeriums.“ Als diese Mitteilung kam, wurde grade der Briefkasten geleert, in dem 2 eingeschriebene Briefe von Sauber und mir lagen: an den Verfassungsausschuß des Landtags und die Abschrift der Eingabe an diesen an den Rechtsausschuß des Reichstags „Betr. Behinderung des Briefverkehrs bayer. Festungsgefangener mit deutschen Volksvertretungen.“ Heut abend geht nun eine Ergänzung dazu an beide Ausschüsse fort, worin wir die Eröffnung mitteilen, aber wegen der Verspätung der Absendung der Eilbriefe, die wir vor dem Beginn der Amnestieberatung im Reichstag verwendet wissen wollten, die Beschwerde aufrecht halten. Ein Brief von Zenzl orientiert mich allerdings darüber, daß Löbe den Brief am 24ten hatte. Er hätte ihn jedoch schon am 22ten haben sollen. Zenzl hat mit ihm gesprochen und er hätte ihr „sehr tröstliche Worte“ gesagt. Sie rüstet zu meinem Empfang. Was die Amnestieaussichten selber betrifft, so war die Zeitungslektüre heute Anlaß zu dramatischen Szenen. Die Frankfurter brachte einen Bericht über eine Sitzung des Rechtsausschusses, der sich mit der Frage beschäftigt hat. Zuerst sprach für die Sozialdemokraten Rosenfeld. Dann gab Dr. Kahl für die Deutsche Volkspartei eine Erklärung ab: seine Partei sei gegen eine allgemeine Amnestie und befände sich in Übereinstimmung mit der Regierung, wobei er jedoch den Fall Fechenbach umso mehr als revisionsbedürftig hinstellte, als in Bayern nachher Urteile nach der andern Seite hin von außerordentlicher Milde gefällt seien. Was Herr Kahl weiter gesagt hat, stand in dem Blatt nicht, das gleich auf die Rede des bayerischen Gesandten überging. Der hat dieselbe Rede gehalten, die er bei jedem Amnestievorschlag gehalten hat. Er bestreite dem Reichstag das verfassungsmäßige Recht, nach Bayern hinein zu amnestieren. Fechenbachs Sache sei noch nicht entschieden (noch nicht!). Bayern betrachte Amnestien als bloße Meilensteine der Revolution (!) und werde auf dem bewährten Wege der Einzelbegnadigung, der längst den meisten Verurteilten die Freiheit verschafft hätte, fortfahren. Dann kamen die üblichen, oft widerlegten Rechenkunststücke über geübte Gnade und über die noch Inhaftierten. Von uns 13 Räterepublikanern (in Wirklichkeit 10) seien 5 „kriminelle Verbrecher“, die die Bewährung verwirkt hätten, die übrigen seien Haupträdelsführer, die man nicht amnestieren könne (Egensperger, Kain, Fuchs!), man werde dennoch weitere Einzelbegnadigungen vornehmen. Und dann kam ich dran. Meine Schwerhörigkeit bestehe seit 15 Jahren, was ich selbst erklärt hätte (ich habe vor 1918 nie was von Schwerhörigkeit bemerkt), meine Krankheit sei nachgewiesen als chronische Coffein- und Nikotin-Vergiftung, den mir angebotenen Spezialohrenarzt hätte ich nicht kommen lassen, kurzum die ganze Entstellungsgeschichte, die wir längst kennen. Ich habe jetzt Hans gebeten, dem Ausschuß das berichtigende Material zuzustellen. – Ich las den Bericht vor, und die Gesichter wurden sehr lang. Der Kassandra-Sepp schrie: Nix is! I habs glei gwußt! und ich erklärte wütend, daß man noch garnichts wissen könne, ehe nicht die Stellung der Demokraten und des Zentrums bekannt sei. Da kam der Vorwärts und ich las dort den Bericht über Kahls Rede und darin folgenden von der Frankfurter nicht gebrachten Passus: Seine Partei sei gegen eine allgemeine Amnestie, doch werde sie zu überlegen haben, ob nicht in der Frage der Bayern von 1919 der sozialdemokratische Antrag angenommen werden müsse. Er sei der Meinung, daß diese Angelegenheit als verjährt betrachtet werden sollte. – Kaum war das gelesen, als die Stimmung ins völlige Gegenteil umschlug, und außer einigen grundsätzlichen Nichtwahrhabenwollern, die meinen, Bayern werde sich um Reichstagsbeschlüsse nicht kümmern, sind wir alle überzeugt, daß morgen der letzte Monat beginnt. Der Rechtsausschuß vertagte sich nach Pregers Rede und will 3 Tage vor Zusammentritt des Reichstagsplenums die Diskussion fortsetzen, das wäre also etwa um den 15. Juli. – Daß ein Reichsgesetz in Bayern nicht durchgeführt würde, halte ich für ausgeschlossen. Das kann man sich nicht mehr ohne weiteres erlauben, zumal das Regierungsprogramm des Ministeriums Held, das nun nach völliger Kapitulation der Bayerischen Volkspartei vor den Deutschnationalen – mit Gürtner, ohne Schweyer – zustandegekommen ist, selbst die Absicht verkündet, ein erträgliches Verhältnis zum Reich herbeizuführen. – Ich halte also unsre Freilassung im nächsten Monat für so gut wie beschlossen und wäre sehr froh, dann nicht mehr auf meine persönliche Berücksichtigung zu spekulieren zu brauchen. Übrigens macht mein Fall draußen viel Lärm, und ich lese eben in Ramus’ „Erkenntnis und Befreiung“, daß die französ[ch]ischen Anarchisten in einer besonderen Kundgebung auch schon meine Freilassung gefordert haben. Leider wird es unsre Aufgabe auch draußen bleiben, uns der im Kerker Zurückbleibenden anzunehmen. Denn zu einer schönen Geste fehlt es hierzulande an jedem Talent und an jeder Konsequenz. Nur die „Münchner Post“ ist konsequent. Sie hat noch mit keiner Silbe von den Reichstagsanträgen der eignen Partei zu unsern Gunsten Notiz genommen und unterschlägt ihren Lesern auch jeden Bericht über die Rechtsausschußverhandlungen. Der Auervater bleibt sich immer gleich. Aber es soll ihm nicht vergessen werden.

 

Niederschönenfeld, Mittwoch, d. 2. Juli 1924.

Über die Eingabe an den bayerischen Verfassungsausschuß wurde mir gestern die Postquittung gebracht. Dagegen erhielt ich über den Verbleib der an den Rechtsausschuß gerichteten Abschrift die Eröffnung, sie sei „auftragsgemäß“ an das Staatsministerium der Justiz geschickt worden. Es scheint also eine generelle Anordnung vorzuliegen, daß alle an Reichsbehörden oder sonst für das feindliche Ausland bestimmten Sachen zuvor nach München gehn müssen. Nun eben dagegen protestieren wir ja in dem Schriftstück. – Heute hatte ich nun die Absicht, wieder einmal einen allgemeinen Überblick über die politische Gesamtsituation zu fixieren, da kommt ein Hausereignis dazwischen, das sub specie fortificationis wichtiger ist als die Annahme der Kontrollnote durch die Reichsregierung (mit einer immerhin interessanten Antwortnote) und wichtiger als das nationale und internationale Parteigezänk. – Heute vormittag wurde unser „roter Luki“, der Egensperger, aus seinen geliebten Gartenbeeten hereingerufen und kam nicht wieder zum Vorschein. Diese Entlassung im gegenwärtigen Augenblick ist überaus bemerkenswert. Egensperger, der letzte Würzburger, der im ganzen 7 Jahre zu machen gehabt hätte, ist Elsässer und hat seinerzeit nicht für Deutschland optiert, sodaß er jetzt die französische Staatszugehörigkeit hat. Er ist schwer nervenleidend, und wir alle zweifeln sogar stark an der Intaktheit des Gehirns seit geraumer Zeit (jeder hat ja in dieser Ehrenhaft einen Knacks fürs Leben wegbekommen, dem einen hat sie Hirn oder Gemüt, dem andern Eingeweide und Herz ruiniert, und ich muß noch dankbar sein, zur zweiten Kategorie zu gehören). Eine große Zahl von Gesuchen wurde E. abgelehnt, und die letzte dieser Ablehnungen hatte eine Begründung, die den Verdacht, er muß für seine Nationalität büßen, ziemlich klar bestätigte: seine Bewährung sei im Ausland nicht zu kontrollieren, ergo – –. Sicherlich ist die Genehmigung seines letzten Gesuchs, das er auf eignes Anraten des Arztes dieser Ablehnung sofort folgen ließ, dem Ergebnis der Untersuchung vom 21. Mai (durch das eigentlich für mich einberufene Ärztekonsilium, bei dem ja auch Brockmann und Egensperger beklopft wurden) zu danken, aber ich glaube kaum, daß es allein genügt hätte, den „Franzosen“ freizugeben. Ich glaube, daß ausschlaggebend die große Amnestie war, womit Frankreich anfängt, die Poincarésche Ruhrpolitik zu liquidieren. Bayern ist mit der Pfalz so stark an dieser Aktion beteiligt, daß es alle Ursache hat, einen Fall aus der Welt zu schaffen, dessen Publizität in Frankreich sehr übel vermerkt würde. Heute spricht sich nun Herr Held über seine bayerische Zukunftspolitik aus. Daß die neue Regierung etwa selber die geplante Liquidation der Justizübungen durch eine Amnestie nach links und rechts vollziehn wird, ist kaum mehr anzunehmen nach dem, was Preger dem Reichstagsausschuß angetragen hat. Das Opfer des rachsüchtigen Hasses kann von einer so frommen Regierung wie der bayerischen nicht verlangt werden. Aber ich glaube, daß die große französische Amnestie, die die Regierung Herriot auch für die eignen Landsleute durchführt, in Deutschland nicht ganz ohne Nachahmung bleiben kann, ohne daß in der ganzen Welt ein unglaublich schlechter Eindruck entstände, – und in der ganzen Welt ist Niederschönenfeld eben das Stichwort für die politische Rachejustiz, die das neue Deutschland charakterisiert. Sadoul, Guilbeaux und Caillaux sind in die französische Amnestie mit einbegriffen worden. Wir aber leben in einer neu geschaffenen „demokratischen Republik“ mit dem Sozialdemokraten Ebert an der Spitze, – und da hat man nur für Monarchisten Verständnis und Gnade: dennoch – ich glaube jetzt doch, daß der rote Luki der letzte war, der diese Burg als Probierkandidat verlassen hat, ob er sich als „Gebesserter“ bewähren wird. Über Egenspergers Charakter will ich keinen Essay schreiben. Wo er sich in Mängeln kundtat, gehts zum guten Teil auf die Wirkungen der Haft. Und außerhalb des Kerkers kannte ich ihn nicht.

 

Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 3. Juli 1924.

Allmählich zerrt die Unsicherheit über unser Schicksal doch sehr empfindlich an den Nerven. 14 Tage wird die Qual des Sterndeutens wohl noch dauern, – und dann werden wir wissen, ob die Freiheit – wenigstens im Vergleich zu unsrer Einkerkerung wird der Ausdruck für das was unserer harrt, ja erlaubt sein – unser Teil sein soll oder die Fortdauer der Rache ad infinitum. Was mich persönlich anlangt, so bedeutet diese Entscheidung, darüber bin ich vollständig im klaren, die Entscheidung über Leben und Sterben. Daß die Regierung, nachdem die Justiz weiterhin in die Hände Gürtners gegeben ist, meine Strafunterbrechung zugeben wird, glaub ich nicht. Sie verfügt über 2 ärztliche Gutachten, die mich für nicht gefährdet erklären, mögen andre Ärzte andrer Ansicht sein, – die Justizbehörde wird sich durch diese beiden Urteile gedeckt finden. Zwar könnte man die Krankheit ja leicht eruieren, man brauchte mich nur als Gefangenen nach Neuburg zu bringen und mich dort durchleuchten zu lassen. Aber es ist sehr wahrscheinlich, daß dann der viel bequemere Standpunkt, dem Mühsam fehlt nichts Ernstliches, preisgegeben werden müßte, und die Verweigerung der Kur wäre dann kaum mehr möglich, – so macht man es lieber wie vor 1½ Jahren im Falle Hagemeister, überläßt die Ermittlung der Krankheit der Obduktion und entschuldigt sich damit, daß die Gefährlichkeit nicht hätte vorausgesehn werden können. – Allerdings will ich nicht ungerecht sein: bis jetzt ist das Gesuch ja noch nicht entschieden, – aber mein Verdacht stellt mir nun einmal mein Schicksal so vor, falls wirklich die Amnestie wiederum vom Reichstag abgelehnt wird. Leider ist die Möglichkeit einer negativen Entscheidung wieder stärker als zuvor. Im preußischen Landtag wurde ein kommunistischer Amnestie-Antrag von der bürgerlichen Majorität niedergestimmt, was einen Rückschluß auf die Absichten im Reichstag nicht erfreulich macht. Noch beängstigender aber ist die Tatsache, daß grade in diesen Tagen Verhandlungen zwischen Reichszentrum und Bayerischer Volkspartei in Bamberg und zwar im Hause des Domkapitulars Leicht, stattfinden, die die Konflikte zwischen den beiden Parteien überwinden und ein besseres parlamentarisches Zusammenarbeiten gewährleisten sollen. Daß die Verhandlungen in Bayern geführt werden, läßt darauf schließen, daß die Stellung der Bayerischen Volkspartei nicht schwach ist, und tatsächlich hat jetzt in Württemberg, wo der Erzreaktionär Bazille die Regierung führt, das Zentrum eine Rechtsschwenkung gemacht, die es dort als völlig der Bayerischen Volkspartei ebenbürtig ausweist. Nun ist auch die Rede Helds gestiegen, sein „Regierungsprogramm“, das allerdings so nichtssagend klingt, daß daraus wenig Schlüsse gezogen werden können. Aber eins ging deutlich daraus hervor, daß Bayern seine „Eigenart“, seine „Hoheit“ etc. weiterhin wahren werde, ohne nötigenfalls Konflikten aus dem Wege zu gehn. Jedoch, meinte Held, habe er Anlaß, anzunehmen, daß man es in Berlin nicht dazu kommen lassen werde. Das klingt verteufelt siegesbewußt, und da in diesem Augenblick das Reichszentrum sich für oder gegen unsre Freilassung zu entscheiden hat, halte ich allerdings unsre Chancen für vermindert. Dieses pessimistische Horoskop wird allerdings durch andre Erwägungen kompensiert. Zunächst ist es wohl wahrscheinlich, daß die Bamberger Einigungsverhandlungen auf vatikanische Wünsche hin vor sich gehn. Bayern braucht im Reich starke Stützpunkte für die Realisierung des neuen Konkordats, und so mag es sein, daß das Zentrum auch seinerseits bedeutende Konzessionen verlangt und erreicht hat, die wohl vornehmlich auf dem Gebiet der spezifisch bayerischen Justiz liegen, da das Ärgernis, das von dieser Seite aus unausgesetzt hochtreibt, einmal zu Ende gehn soll. Natürlich ist diese Kombination auch mir selbst nicht so überzeugend, um deswegen in der Amnestiefrage mehr Mut zu fassen. Denn den Bayern sind wir wichtig, den Reichsklerikalen aber als Tauschäquivalent bestimmt zu billig, als daß man unsertwegen sich ein Bein ausrisse. Unsre größte Chance dürfte darin liegen, daß sehr wahrscheinlich Zentrum und Demokraten den Sozialdemokraten gegenüber schon Bindungen eingegangen sind, um das Zugeständnis der Zustimmung zum Marxschen außenpolitischen Programm zu erkaufen. Ferner ist die Kahlsche Erklärung da und endlich liegen die Verhältnisse im Reich ja doch anders als in den Ländern, sodaß auch das preußische Beispiel nicht überall kopiert zu werden braucht. Vor allem: im Reichstag liegen außer den Anträgen, die uns als verjährt und die übrigen Linken als amnestiewürdig betrachtet wissen wollen, doch auch noch die Straffreiheitsanträge für die Kappputschführer, für die Küstriner und die Hitlerianer vor. Die Völkischen und Deutschnationalen können sich also diesmal das Argument, daß man den Bayern nicht in ihre Hoheit pfuschen darf, nicht zu eigen machen. Somit liegt gegen dieses Argument bereits durch die 4 antragstellenden Parteien eine Mehrheit vor, die durch die Demokraten zweifellos auch noch ergänzt wird. Es müßte also schon sein, daß jede Amnestie überhaupt abgelehnt wird und die Einzelregierungen auf den Weg der Einzelbegnadigungen verwiesen werden, und diese Möglichkeit liegt freilich vor. Wahrscheinlicher scheint mir aber doch, daß eine natürlich unzulängliche Amnestie zustande kommt, die mindestens uns und Jagow mit den übrigen Kappisten umfassen würde, da man nun, wenn man nicht sämtliche Anträge zurückweisen will, das bis jetzt immer bemühte Argument – Rücksicht auf Bayern –, das schon von den Deutschnationalen selbst über den Haufen geworfen ist, nicht mehr brauchen kann. Im bayerischen Landtag haben die Völkischen einen Amnestieantrag eingebracht – nur für die ihrigen. Von den übrigen verlautet noch nichts. Wir werden darüber wohl in den nächsten Tagen Genaueres erfahren, doch glaube ich kaum mehr, daß für uns von der Regierung Held mehr zu erwarten ist als von allen ihren Vorgängerinnen. Noch 14 Tage etwa – und bis dahin: starke Nerven!

 

Niederschönenfeld, Freitag, d. 4. Juli 1924

Tag um Tag schleicht vorüber, die Geduld hat harte Proben auszustehn. Neues ist kaum anzumerken. Doch stieß ich gestern zufällig auf einen bisher übersehenen Bericht der Münchner Post über die letzte Sitzung des sozialdemokratischen Vereins in München, die sich mit Anträgen aus Mitgliederkreisen zu befassen hatte. Da ist ein Antrag eingelaufen, der ungefähr so lautet: Nachdem der eigentliche Veranlasser der Räterepublik, Graf Arco, begnadigt worden ist, soll die bayerische Regierung befragt werden, ob sie ihre Gnade nicht auf[auch] auf die eigentlichen Räterepublikaner erstrecken möchte. Ferner sollen die Genossen der Reichstagsfraktion (!) ermahnt werden, unausgesetzt für die Freilassung Fechenbachs einzutreten. Der Antrag ist vorsichtig genug gefaßt, geht also scheinbar von jemandem aus, der den jeder Amnestie abholden Auerochsen nahesteht. Er verlangt daher auch nur eine „Gnade“ für uns, Entlassung auf Bewährung, um uns bei passender Gelegenheit immer wieder hoppnehmen zu können. Bei Fechenbach aber, den man wohl ernstlich heraushaben möchte, traut man sich nicht im eignen Laden einzukaufen und möchte bloß beim Reich antippen. Immerhin: daß in einem Münchner sozialdemokratischen Konventikel überhaupt von uns die Rede war und daß die Münchner Post nicht umhin konnte, davon Notiz zu nehmen, verdient schon einen Merkstrich. Aber der Pferdehuf hinkt schon gleich hinterher. Der Antrag wurde kurz erledigt mit folgender Begründung: Da der Genosse Sänger hierüber im Reichstag schon alles Erforderliche gesagt hat, ist der Antrag überholt! Das zeigt deutlicher als alles Totschweigen, wie ernst es dieser Brut mit ihrer nicht mehr vermeidbaren Geste ist. Draußen liest natürlich jeder Mensch über derartige im höchsten Maße charakteristischen Beschlüsse hinweg. Umso nötiger ist es, daß es hier wenigstens notiert bleibt. – Eine sehr wichtige Nachricht brachte ein Brief Hanna Ritters an ihren Gustl: Wadler sei frei und befinde sich, aus Bayern ausgewiesen, in Köln. Preger hat vorige Woche im Reichstag erklärt, daß 23 Räterevolutionäre noch im Zuchthaus Straubing sitzen. Da von den etwa 60, die im ganzen Zuchthaus bekamen, die größere Hälfte ihre Strafe schon bis zu Ende absolviert hat, scheint Wadler der erste Bewährungsfristler von dort zu sein. Da er Bayer ist, wird man ihm wohl den Verzicht auf die Staatszugehörigkeit zur Bedingung gemacht haben, um ihn ausweisen zu können. Die Tatsache selbst deutet darauf hin, daß man dem Amnestieverlangen für uns im letzten Moment dadurch entgegenkommen und es also sabotieren möchte, daß man in größerem Stile als bisher jetzt Bewährungsfristen bewilligt und Leute freigibt, für die besonders viel Mühe aufgewendet wird. Wadlers Zuchthausurteil hat ganz besonders viel Unwillen erregt, weil man ihn – wir saßen ja nebeneinander auf der Anklagebank – einfach deswegen zu Zuchthaus und Ehrverlust verdammte, weil Offiziere und Juristen einen Offizier und Juristen, der Renegat geworden war, vor sich hatten, und sein Renegatentum wurde ja tatsächlich als einziger Beweis für seine ehrlose Gesinnung geltend gemacht. Ich gönne ihm seine Freiheit von Herzen, aber ich wünschte, daß die armen Proleten, die weiterhin Straubing bevölkern – Strobl, Schroll, Kopp etc etc ebenfalls bald herauskämen. Wenn das System, mit dem man die Reichsamnestie zu durchkreuzen sucht, wirkt, so kann ich wohl bald hoffen, dadurch rauszukommen – denn zur Zeit stehe ich ja im Mittelpunkt der ganzen Amnestiepropaganda wegen meiner Krankheit –, aber die andern, die Unbekannten, die, die sich selbst nicht helfen können, die werden vergessen und bleiben den furchtbaren Methoden des bayerischen politischen Korrektionsstrafverfahrens ins Unabsehbare ausgesetzt. Und noch eins: wird unsre Freiheit auf anderm Wege als dem der Amnestie bewirkt, so werden unsre Haftakten weitergeführt, unsre beschlagnahmten Papiere, Briefe, Aufzeichnungen (meine Tagebücher!) bleiben verloren und werden gegen uns verwendet, ganz abgesehn davon, daß unsre Wiedereinziehung bei geringsten Kleinigkeiten latent droht. Hat doch Rosenfeld im Rechtsausschuß mitgeteilt, daß die Bewährungsfrist unsres Valtin Hartig deswegen widerrufen worden sei, weil er in Leipzig als Sekretär des Arbeiter-Bildungs-Instituts wirkt, was Bayern für politisch-agitatorische Rückfälligkeit ansieht. Läßt sich Valtin nur mal in seiner Heimat sehn, so riskiert er, sofort nach Niederschönenfeld zur Restverbüßung von 3 Jahren eingeliefert zu werden. Hoffentlich fällt also der Reichstag auf Zusicherungen Bayerns, die bedingten Begnadigungen nun in großem Umfange aufzunehmen, nicht herein. – Aus Hannas Brief ist noch eine weitere Mitteilung erwähnenswert, die ein sehr bezeichnendes Licht in einen andern Ausschnitt des „revolutionären“ Lebens draußen fallen läßt. Sie war bisher in der russischen Handelsdelegation als Stenotypistin angestellt und für die augenblicklichen großen Liquidationsarbeiten, die durch den Konflikt bedingt sind, bei dem ja die meisten Angestellten entlassen wurden, weiter engagiert. Jetzt hat man auch ihr den Stuhl vor die Tür gesetzt – ihr und allen als Kommunisten „Kompromittierten“! Offenbar denkt man in Moskau im Ernst garnicht daran, den Streitfall mit Deutschland, der ja schon zu vielen unerquicklichen Kundgebungen geführt hat (die Verdächtigung Bozenhardts als agent provocateur etc!), bis zum entgiltigen Bruch kommen zu lassen, so wuchtig man auch tut. Die Verhandlungen gehn weiter, und man kann aus Hannas Schicksal schließen, daß die deutsche Regierung schon stark genug ist, um ihrerseits strenge Bedingungen zu stellen, deren erste heißt: raus mit allen kommunistischen Politikern aus der Delegation! Und sie erfüllen das! Weil diese Angestellten ihrer, der Arbeitgeber, eignen Gesinnung sind, fliegen sie raus! Soweit hat es die „Nöp“ gebracht, dieses Ergebnis der Politik derselben 3. Internationale, die ihren Angehörigen zur Pflicht gemacht hat: wo Arbeiter in einem Unternehmen ihrer politischen Überzeugung wegen gemaßregelt werden, tritt die ganze Belegschaft sofort in den Solidaritätsstreik! – Ach, Bakunin hat immer wieder recht: „Wenn Einzelne siegen, ist dies nicht mehr der Sozialismus, sondern Politik, Geschäft der Bourgeois, und die sozialistische Bewegung ist verloren.“

 

Niederschönenfeld, Sonnabend, d. 5. Mai[Juli] 1924

Als wir gestern die Zeitungen gelesen hatten, schien uns das Barometer um etliche Millimeter gesunken. Die „Frankfurter Zeitung“ – leider bekommen wir auch in diesem Monat keine große bürgerliche Zeitung aus Bayern selbst – brachte den Bericht über eine Sitzung des Verfassungsausschusses des bayer. Landtags, der sich mit den völkischen und kommunistischen Amnestieanträgen zu beschäftigen hatte. Die Kommunisten verlangten allgemeine, die Völkischen Amnestie für die Beteiligten vom 8/9 November 1923. Die Sozi ihrerseits hatten einen Amnestieantrag gestellt, wonach nur die Verfehlungen gegen die Kahr-Verordnungen straffrei werden sollten. Gürtner erklärte für die Regierung sämtliche Anträge für unannehmbar, da Amnestien den Volkscharakter verderben (!), während Lent (Nationale Rechte) meinte, Hitler solle nur seinen Knast bis zum 1. Oktober machen, dann müßte selbstverständlich die ausgesprochene Bewährung in Kraft treten. Beschluß: Ablehnung sämtlicher Anträge. Damit war also der Hoffnungsanker, der auf eine Amnestie von Bayern selbst aus lotete, entgiltig losgerissen, und unser Schiffchen aufs sehr ungewisse Meer des Parteischachers im Reichstag hinausgeworfen. Jetzt haben wir nun den Bericht über diese Sitzung in etwas ausführlicherer Form, da in der Münchner Post und in der Frankfurter Zeitung ein paar zum Gegenstand gehörige andre Notizen vorliegen, – und siehe! die Säule des Quecksilbers ist wieder um ein erhebliches Stück gestiegen. Zwar: die Ablehnung der Anträge ist Tatsache, und von Bayern aus ist eine Amnestie nicht leicht zu erwarten, aber die M. P. sagt auch, was die Bayerische Volkspartei durch ihren Redner (Pestalozza) erklären ließ. Der sprach sich grundsätzlich gegen jede Amnestie aus, fügte aber hinzu: wenn doch schon eine sein soll, so müsse sie gleichmäßig nach links und nach rechts wirken. Die Sozi jedoch – im unentwegt heißen Bestreben, um Gottes willen uns keinen ihrer dreckigen Finger zu reichen – sandten einen neuen Mann vor – Dr. Högner(?), der fand, die meisten in den Amnestieanträgen angesagten Sachen gingen das Reich an und sollten ihm überlassen bleiben. Nur die Kahrverordnungen müßten Straffreiheit bewirken, da sie ungesetzlich seien, man werde im übrigen gegen die beiden Anträge stimmen (!), empfehle aber, auf dem Begnadigungswege Gerechtigkeit walten zu lassen. – Sie dürfen sich freuen, wenn ich mal draußen bin und ihre ganze Heimtücke öffentlich mache. – Die Äußerung Pestalozzas scheint mir sehr beachtlich. Die Bayer. Volkspartei rechnet also offenbar damit, daß sie über kurz oder lang um eine Amnestie nicht herumkommt und erklärt für diesen Fall: Schluß auch mit den Delinquenten von links! Wenn also im Oktober die Hitler-Garde frei wird und die kleineren Sünder, denen man die Bewährung wieder gestrichen hat, drin bleiben, dann wäre also wohl ein Bilanzstrich zu erwarten und wir hätten wieder einmal zu hoffen. Aber das wäre noch sehr wenig ohne die Mitteilungen der Frankf. Ztg. Da wird Genaueres über Gürtners Erklärung und über die Kritik gesagt, die sie bei der Bayerischen Volkspartei hervorruft. Gürtner habe sich Lents Meinung angeschlossen und gesagt, eine Amnestie für Hitler lohne ja garnicht, da ihm das Volksgericht zum 1. Oktober ohnehin Bewährung bewilligt habe. Somit sei vom Gericht auch das nationale Motiv schon berücksichtigt. Die Volkspartei-Korrespondenz greift deswegen den Justizminister an. Am 1. Oktober werde Hitler keineswegs eo ipso frei, sondern das Gericht habe dann nur zu befinden, ob er Bewährungsfrist erhalten solle oder nicht. Es sei sehr bedenklich, daß von so kompetenter Seite in einer so delikaten Sache das Urteil präjudiziert werde. Die Stänkerei zwischen dem deutschnationalen Minister und der Regierungspartei geht also weiter trotz der löblichen Unterwerfung dieser unter jenen. Im Oktober wird die Amnestiefrage also höchstwahrscheinlich wieder aktuell werden, – falls sie wirklich jetzt im Reichstag immer mal wieder abgemurkst wird. Aber mir scheint, auch da haben wir besseren Grund zum Optimismus als gestern noch. Einmal ist aus der Haltung der Bayerischen Volkspartei deutlich zu erkennen, daß sie zwar im Reichstag gegen unsre Freilassung stimmen und wohl auch die übliche Charaktergeste mit ihrer Hoheit etc. ausführen wird, aber ihren Widerstand sicherlich nicht zur Konfliktsfrage steigern, keine Obstruktion treiben wird, falls der Antrag angenommen wird. Zweitens aber scheinen die Befürchtungen, die wir wegen der Bamberger Einigungsverhandlungen hatten, überflüssig zu sein. Die Frankfurter bringt nämlich einen Bericht über die Art der Verständigung, die bisher erzielt sei. Danach sei man sich einig, daß eine Arbeitsgemeinschaft, wie sie etwa bis 1920 bestanden habe, überhaupt nicht in Frage komme, daß man überall seine eignen Wege gehn wolle, und daß nur da, wo gemeinsame Interessen vorliegen, nach Möglichkeit Verständigung gesucht werden soll. Das bestärkt meine Kombination, daß hier päpstliche Wünsche berücksichtigt werden, nämlich daß in allen Angelegenheiten der Klerisei bzw. der „Kultur“-Politik eine gemeinsame Linie eingehalten werden, in allen politischen Fragen jedoch Freiheit der Entschließung für beide Teile und auch Kampf gegeneinander vorbehalten bleibt. Danach ist kaum zu fürchten, daß das Reichszentrum in unsrer Frage sich auf den Standpunkt der bayerischen Volkspartei hat festlegen lassen, es ist sogar sehr unwahrscheinlich, daß auch nur ein solcher Versuch von den Bayern gemacht worden ist. Wenn sie also den Wunsch haben, uns freigelassen zu sehn, so werden sie jedenfalls dementsprechend stimmen, und für die Begründung, die dem bayerischen Prestige dabei Rechnung trägt, demnach nicht auf der bodenlosen Ungerechtigkeit, die gegen uns geübt wird, fußt, hat ja Kahl schon die Formel gefunden: man betrachte die Angelegenheit als verjährt. In längstens 14 Tagen dürfte die Entscheidung da sein, und wir werden entweder, wie schon 1920 und 1922 mit langen Gesichtern in öder Zukunft nach neuer Rettung tasten, oder, ein zweites Leben vor uns, mit ausgebreiteten Armen den Herzen der Unsern entgegenstürzen.

 

Niederschönenfeld, Montag, d. 7. Juli 1924

Ich bin sehr nervös. Gehn unsre Hoffnungen wieder zu Bruch, dann fürchte ich, wird es ebenso mit mir selber zu Bruch gehn. Nicht weil meine gute Meinung von der endlich doch triumphierenden Gerechtigkeit im Staat enttäuscht wäre – diese gute Meinung hat niemals bestanden –, sondern weil der Körper schlechterdings nicht mehr mittun will. Ich fühle allmählich einen Kräfteverfall, der mich sehr bedenklich stimmt und es häufen sich die scheußlichen Alpträume, die mit irgendeinem Angst- und Verzweiflungszustand in Schreien und Luftmangel enden. Solche qualvollen Zustände hatte ich hintereinander in den beiden letzten Nächten. Gestern früh wachte ich, über Treppen gehetzt, durch mein eignes Schreien – das ich deutlich hören kann – auf, und heute früh hatte ich die sonderbare Einbildung, ich brächte die Blätter eines – wenn ich mich nicht täusche – handschriftlich geschriebenen und mit Zahlenrechnungen gefüllten großen Buches nicht auseinander und geriet dadurch in Wut, Angst, Verzweiflung, bis ich unter den furchtbaren Anstrengungen, die zusammenklebenden Seiten von einander zu lösen, ins Wimmern, Stöhnen, Keuchen und Schreien kam, das ich stark hörte. Ich erwachte aber durch ein Geräusch draußen auf dem Gang und dann traten 2 Aufseher bei mir ein, um zu sehn, was mir fehle. Da ich in der letzten Zelle des Ganges wohne, habe ich so laut gebrüllt, daß die Wachthabenden es durch die geschlossene Tür an den 10 Zellen des Ganges vorbei bis zu ihrem Platz zwischen den Gittern hörten. Der Zustand danach ist garnicht nett. Mindestens eine halbe Stunde noch keuche ich mit fliegender Brust, schwitze am ganzen Leibe und komme mir vor, wie eben vor dem Ertrinken aus dem Wasser gezogen. Vielleicht tut das Massieren, das mir seit einer Woche etwa der Gustl jeden Morgen besorgt, meinem Herzen, dem es helfen soll, doch nicht gut. Wir werden es nun wieder lassen. Heute bin ich ganz zerschlagen, da ich nach der Attacke, um ½ 1 Uhr, absolut nicht wieder einschlafen konnte. Aber, ein Vorteil war auch wieder dabei: In den Stunden des Wachliegens bis zum Hellwerden entstand ein lyrisches Gedicht („Predigt“), dessen Beurteilung vorbehalten bleiben muß, bis ich Distanz dazu habe. Jedenfalls sehe ich der Entscheidung der Dinge in der nächsten Woche mit sehr nervöser Spannung entgegen. Die Ablehnung der Amnestie würde mich natürlich zwingen, mit größter Energie meine Strafunterbrechung zu betreiben. Da ich ja aber weder Pöhner noch Frick heiße und Dr. Gürtner eine andre politische Überzeugung hat als ich, sehe ich den Aussichten des Gesuchs mit außerordentlich geringen Erwartungen entgegen und halte meinen Tod in diesem Käfig für unabwendbar. Ein solcher Traum wie der heute nacht kann, wenn ich nicht rechtzeitig geweckt werde oder meine Mühe aufzuwachen vergeblich bleibt, leicht einmal mit einer Überanstrengung enden und das Herz sprengen. Bin ich daheim, so weckt mich Zenzl natürlich beim ersten Laut. Mögen sich die Ärzte noch soviel auf ihre Kunst einbilden, daß mein Herz krank ist und nur wenig Zeit mehr übrig ist, um es zu kurieren, weiß ich selbst am besten. – Zur „Lage“ wäre wohl allerlei zu sagen, obwohl nichts, was die Situation in den Grundlagen betrifft. Die Kommunisten, die die Proleten Stimmzettelpolitik treiben lassen, um angeblich durch Immunität besser geschützt zu sein, kriegen die öffentliche Bescheinigung ihrer Klugheit tagtäglich von Polizei und Justiz um die Ohren gehauen. Erst in Bayern, jetzt auch im Reich und in Preußen (dort mit Zustimmung des sozialdemokratischen Präsidenten Leinert) hat man ihnen die Fraktionsräume in den geheiligten Parlamentsräumen von unten bis oben umgekrempelt und alle ihre Papiere weggeschleppt: die Majoritäten der Wolkenkratzer haben diese Maßnahme natürlich überall gutgeheißen, und sie, denen es geschah, weinen. Grönsfelder, der kein Spitzel ist – calumniatur audacter ... – sitzt trotz der Immunität in Schutzhaft. Schlaffer, unser großer Befreier, muß dringend nach Moskau fahren, in dem Augenblick, wo man sich über die Amnestie unterhält. Pöhners Immunität wird vom Landtag bestätigt, da sich ja diesmal keine Abgeordneten mehr unter den proletarischen Inhaftierten befinden – aber von Postenjägerei ist in der KPD keine Rede! –, und die Bourgeoisie ist blöd genug, die Radamontaden lächerlicher Sprüchmacher ernst zu nehmen, statt zu erkennen, daß grade dadurch keine Revolution kommt, daß die Kommunisten dauernd das Geschrei von ihr machen, – um so das revolutionäre Sehnen des Proletariats auf Stimmenfang abzulenken. Ließe man die Hanswursten ihren Parteidreck ungestört treiben, sie wären längst ebenso brav wie die Sozi von 1913. Ihr ganzer Nimbus kommt aus der Angst derer, gegen die sie die Tasche in der Faust ballen. Die Sozi selber aber organisieren mit Einwilligung der Regierungen ihr „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“ , angeblich um damit den Faszismus umzubringen. Ich bin nur neugierig, wann diese Organisation zum ersten Mal auf hungernde Arbeiter schießt. Schwachköpfe!

 

Niederschönenfeld, Dienstag, d. 8. Juli 1924

Man hat unsre Wartepein verlängert. Nach den Zeitungen tritt der Reichstag erst wieder am 28. Juli zusammen. Das ist Zenzls 40. Geburtstag, und unser Wunsch, an diesem Tag ganz sicher wieder beisammen sein, scheint sich also nicht zu erfüllen. Eine geringe Möglichkeit, daß die Entscheidung doch noch vorher fällt, besteht höchstens noch, wenn es den Kommunisten gelingt, die Einberufung des Plenums, wie sie verlangen, wegen der Durchstöberung ihrer geweihten Räume durchzusetzen. Wahrscheinlich ist es nicht. Wenn aber ja, dann bleibt immer noch zweifelhaft, ob man auch die Amnestieanträge dann zugleich erledigt. Der Rechtsausschuß hat sich mit dem Beschluß vertagt, erst 3 Tage vor Wiederzusammentritt des Reichstags zusammenkommen, und dabei wurde vorausgesetzt, dessen Einberufung werde erfolgen, wenn die Vorberatungen der Gesetze zur Durchführung der Dawespläne abstimmungsfertig vorliegen. Also auf 3 Wochen haben wir uns vorerst mal einzurichten. In der Öffentlichkeit scheint inzwischen von Bayern aus eine bestimmte Regie zu wirken, um einerseits dem Ärgernis über die Brutalisierung der Räterevolutionäre im Vergleich zur Behandlung Arcos und der Hitlerleute die Spitze abzubrechen, andrerseits den Widerstand gegen die Amnestie zu stärken. Die Freilassung Wadlers, die natürlich garnicht anders zu beurteilen ist als die Hornungs etc wird in der Presse dick aufgetragen und als ein erstes Aufblitzen bayerischer Gerechtigkeit gegen die Räterepublikaner hingestellt. Man erwarte jetzt gespannt, ob weitere Begnadigungen folgen werden. Das ist von der bayerischen Regierung offenbar darum inspiriert, um zu zeigen: jetzt geht die Gnade los, auch ohne Amnestie! Ist dann das Amnestiegesetz im Reichstag durchgefallen, dann sind wir wieder soweit wie vorher. Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Zitat, das die Frankfurter Zeitung dem sozialdemokratischen Parlamentsdienst entnimmt. Da wird zu Wadlers Entlassung gesagt, sie sei als ein Zeichen beginnender Menschlichkeit in Bayern zu begrüßen (also bei diesen Leuten ist die Absicht schon erreicht, und die Korrespondenz – die in Berlin erscheint! – erwähnt mit keinem Wort den Reichstagsantrag der eignen Partei. Absicht oder Zufall?), aber es sei auffällig, daß man grade bei Wadler mit dieser Menschlichkeit anfängt, dessen Ehrlosigkeit doch auch von sozialdemokratischer Seite stets zugegeben worden sei. Diese Halunken! Sie haben ihre Gesinnung, wie Wadler auch, erst 1914 und dann 1918 gewendet wie eine alte Hose – und hierin eben sehn sie ja bei Wadler die „Ehrlosigkeit“. Aber sie haben dann seit 1918 und in der ganzen Zeit, in der der arme Wadler durch ihre Infamie im Zuchthaus saß, den letzten Rest von Gesinnung, Charakter, Prinzip und Programm verraten. Ach, diese Kanaillen! Konjunkturpolitiker nennen sie den andern, während sie die Begriffe Politik und Konjunktur praktisch längst identifiziert haben. Es wird einem übel. – So also wird eine doch allmählich ziemlich weit um sich greifende Empörung über die Unbarmherzigkeit in Bayern besänftigt. Zugleich aber häufen sich in der den Münchner Inspirationen zugänglichen Presse verleumderische Reminiszenzen kompaktesten Kalibers, um die „Greuel“ der Rätezeit wieder lebendig zu machen. Da man ja mal nichts andres hat, was sich dazu eignet, muß der sogenannte „Geiselmord“ wieder herhalten, und leider ist es ja gelungen, auch dem deutschen Proletariat weiszumachen, daß in München ein Geiselmord verübt worden sei. In Wirklichkeit sind 10 Spione und Stempelfälscher, bei flagrantem Revolutionsverrat erwischte Verschwörer, die in der Untersuchungshaft saßen, unter dem Eindruck der entsetzlichen Starnberger Morde – die wirklich Morde waren – übereilt, das heißt ohne geregelte Gerichtsverhandlung standrechtlich hingerichtet worden (was bedauerlich ist, aber selbst nach strengster Zugrundelegung der bürgerlichen Rechtsbegriffe niemals als Mord bezeichnet werden kann, sondern ärgstenfalls als Totschlag, wie denn das Gericht die gänzlich kommandolos erfolgte Niedermachung der katholischen Gesellen, nur als Totschlag auffaßte und die wirklichen Morde an Landauer, Sontheimer, Egelhofer, Horn, Leib etc. etc. überhaupt nicht strafwürdig fand). – Also der „Geiselmord“ beginnt plötzlich wieder in der Presse zu spuken, und da man die armen Teufel, die vor 5 Jahren als Opfer der entsetzlichen Justizfarce in München sterben mußten, nicht recht mehr beschimpfen kann, beschimpft man diejenigen, die zwar auch tot sind, aber deren Tod nicht deutlich genug mit der Luitpoldgymnasiumstragödie in Verbindung steht. Auf Roths niederträchtige Bemerkung im Reichstag, Leviné sei mit Recht von der Kugel getroffen worden, folgte ein Artikel im Miesbacher Anzeiger, der sich die unglaubliche Schuftigkeit leistet, zu behaupten, Leviné sei der Mann gewesen, der „die armen 10 Geiseln bestialisch ermorden ließ“ und der „die arme Stenotypistin Westarp noch vor ihrer Erschießung geschlechtlich vergewaltigte“ (Miesbacher Anzeiger vom 1. Juli). Der miserable Hundsfott, der das wider besseres Wissen geschrieben hat, predigt die Politik der christlichen Duldsamkeit und Liebe! Ich frage mich nur immer wieder: glauben diese Propagandisten der Frömmigkeit selber überhaupt kein Wort von dem, was sie andern als Bedingung aller himmlischen und irdischen Seligkeit vorsagen oder glauben sie an ihre Religion, – und haben sie in diesem Falle dann garkeine Furcht vor einer Verantwortung vor ihrem Gott? Ich kann mich absolut nicht in diese Herzen und Seelen hineindenken. Mich schaudert nur vor soviel bornierter Infamie. – Nun aber beginnt in der Deutschen Allgemeinen Zeitung eine illustrierte Sonntagsbeilage zu erscheinen, und in deren erster Nummer ist der Anfang einer Novelle des Feuilletonredakteurs der Zeitung, des Herrn Otto von Gottberg zu lesen, die überschrieben ist: „Im Blutkeller“ und das Schicksal der im Luitpoldgymnasium Erschossenen behandelt. Hier entfaltet der ebenfalls sehr christliche Autor von der evangelischen Fakultät eine Phantasie von so unsäglich schmutziger Brutalität, daß jeder Kolportageschmöker für Dienstmädchen durch dieses Lesefutter für die neureichen Schieber dieses Ebert-Deutschland dadurch zum Range einer Postille erhoben wird. Freilich ist die Schmiererei zu plump, zu dick aufgetragen, als daß sie ihren Zweck der Verhetzung außer bei gänzlich kritiklosen Eseln erreichen könnte. Aber der Zweck selbst liegt so offen am Tage, daß eine Zufälligkeit, daß dies Sudelwerk eines gewissenlosen Dreckfinken von Analphabeten grade jetzt und in einer so weitverbreiteten und einflußreichen Großindustriellenzeitung veröffentlicht wird, kaum angenommen werden kann. Ich sehe auch hier Münchner Regie walten und so scheint mir die Vertagung unsrer Lotterieziehung um 3 Wochen keineswegs bedeutungslos. Das Gift, das hier eingegeben wird, wirkt nicht von einer Minute zur andern; aber von einer Woche zur andern kann es schon viel guten Willen und Gnadenregung in urteilslosen Gesetzgebern angefressen haben. Ehe die Mauern und Gitter von Niederschönenfeld meinen Blicken nicht von außen sichtbar sind, möchte ich nicht damit rechnen, sie je im Leben anders als von innen sehn zu dürfen. Denn daran, daß ich krank bin und daß meine einzige Rettung die Freilassung ist, wenn sie noch rechtzeitig – das heißt bald – kommt, ist für mich leider kein Zweifel mehr.

 

Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 10. Juli 1924

Wenn wir die gegen uns angewendeten Strafmethoden in ihren vielfachen Abstufungen als Barometer für die politische Witterung im allgemeinen betrachten können – und bis jetzt hat sich diese Betrachtung noch immer als richtig erwiesen, – dann ist seit kurzer Zeit der Wind in Bayern wieder gründlich nach ganz rechts umgeschlagen. In der Zeit der Regierungs-Dauerkrise hatte Herr Hoffmann die Zügel merklich gelockert. Als Zensor ließ er vieles durch – herein und hinaus, was sonst zu den Akten gegangen war, und man hatte überall das Gefühl, ein klein wenig weniger geschuhriegelt zu werden. Seit feststeht, daß Gürtner Justizminister bleibt, geht’s wieder weiter wie früher, – d. h. es werden weiterhin Methoden gebraucht, die zeigen, daß man noch immer, nach 5 Jahren nicht verlegen ist, das Prinzip der sukzessiven Strafverschärfung anzuwenden. Nächsten Mittwoch geht Toller, verläßt uns also Dienstag nachmittag, um die Nacht über in der üblichen Quarantäne von unerwünschten Papieren entlaust zu werden. Wir hatten es immer so gehalten, daß Genossen im engeren oder weiteren Freundeskreis eine kleine Abschiedsfeier machten, und Toller wollte am Sonntag sämtlichen zurückbleibenden Festungsgefangenen ein kleines Essen spenden, das übrigens nicht in gemeinsamer Mahlzeit verzehrt werden sollte – das wäre ja, nachdem man uns – wider die Vorschriften – den Gemeinschaftsraum weggenommen hat, garnicht möglich. Alle Gruppen sollten an den Tischen, an denen sonst die Mahlzeiten eingenommen werden, etwas Besonderes zu essen kriegen, und so wurde – für 14 Mann – bestellt: 7 Pfund Rindslende, 2 Pfund Makkaroni und entsprechend Butter, ferner für jeden ½ Liter Bier, also die uns in der neuen Hausordnung nach der Reduzierung zugestandene tägliche Ration. Toller erhielt daraufhin die Eröffnung: „Ein Abschiedsfestessen (so!) findet nicht statt.“ Die Bestellung verstoße gegen Punkt 6 der Hausordnung (wonach die Grenzen der Einfachheit und Mäßigkeit nicht überschritten werden sollen), verletze überdies den Ernst des Strafvollzugs und werde folglich nicht ausgeführt, zumal auch ein Mißbrauch der „Vergünstigung“ vorliege, daß Toller bei Frau Veh in Rain Konto habe. Rindslende und Makkaroni überschreiten die Grenzen der Mäßigkeit und Einfachheit! Und wenn man mal ein klein wenig besser essen möchte als es einem die Verwaltung neuerdings mit ihrer einfachen „bürgerlichen“ Kost zumutet (die Suppen werden mit einem übelriechenden Pflanzenfett* zubereitet, sodaß jeden Tag fast alle Suppenteller unberührt stehn bleiben), dann stört das den „Ernst des Strafvollzugs“. In all den 5 Jahren war das denn doch noch nicht da, und so wissen wir denn jetzt, daß wir uns bei Fortdauer der Festungsstrafe noch auf ungeahnte Neuerungen gefaßt machen dürfen. Eben bringen die Völkischen Blätter eine Erklärung Hitlers, worin er sozusagen Abschied nimmt. Er wolle ein Buch schreiben und habe also keine Zeit mehr, bitte infolgedessen auch, ihn nicht mehr garzu viel mit Besuchen in Landsberg zu überlaufen. Wir haben 6 Besuchsstunden wöchentlich, an denen uns, selbst wenn mal jemand kommt, fast immer noch einiges abgestrichen wird, und so sehnen wir uns nach nichts mehr als nach Besuchen, selbst wenn wir nichts Politisches mit ihnen sprechen dürfen. Hitler aber muß öffentlich bitten, die politischen Konferenzen, zu denen er tagaus tagein aufgesucht wird, ein wenig einzuschränken, damit er doch einmal zu sich selbst komme! Sic duo faciunt idem, non est idem. Die Äußerung, mit der Herr Dr. Gürtner sich neulich gegen die Amnestie aussprach, hieß: Amnestien wirken immer ungerecht. Es ist gut, daß dieser Justizminister dem bayerischen Volk und der staunenden Mitwelt zugleich demonstriert, was gerecht wirkt.

 

* Wie Sauber, von Beruf Kellner und Koch, mir erklärt, ist es kein Pflanzen- sondern Nierenfett, das man allgemein nicht zum Kochen verwendet.

 

Niederschönenfeld, Sonnabend, d. 11. Juli 1924

In der völkischen Presse ist ein mächtiges Hallo entstanden wegen Wadlers Begnadigung, sodaß bereits der offiziöse Beschwichtigungsapparat in Bewegung gesetzt wird. Dabei ist es sehr merkwürdig, daß überall betont wird, Wadler sei der erste „Rätebluthund“ (Völkischer Kurier), an dem die bayerische Gnade lebendig wird, oder, wie ich irgendwo las, der erste „aktiv Beteiligte“. Wie stimmt das zusammen mit den immer so laut angepriesenen Statistiken über das bewährte Verfahren der bedingten Begnadigungen? Tatsächlich ist Wadler ein Fall unter sehr vielen, wobei allerdings möglich ist, daß er als erster von denen freigeworden ist, die als „ehrlos“ ins Zuchthaus kamen. Mit „aktiv beteiligt“ soll wohl ausgedrückt werden, er sei als Mittäter verurteilt. Das stimmt aber nicht einmal. Bei der unglaublichen Willkürlichkeit, mit der die Dinge hier so, dort grade entgegengesetzt beurteilt wurden, wurden die meisten Würzburger wegen Mittäterschaft verurteilt: Ringelmann, Bedacht, Valtin Hartig, Hornung, – von Augsburg Blößl und noch weitere, die alle schon frei sind. Wadler aber – ich habe mir eben das Urteil angesehn – ist nur wegen bloßer Beihilfe verurteilt worden. – Nun, das Dementi erklärt nun, wie die Behörde dazu kam, den „galizischen Juden“ freizugeben: Wadler habe seine Ansichten vollständig geändert und habe sich zu einer positiven Staatsgesinnung durchgerungen, also alle seine revolutionären Ideen aufgegeben. Ich denke nicht daran, mich deswegen zu entrüsten. Wadler war 1918 für die Eisnerrevolution, 1919 für die Räterepublik ehrlich enthusiasmiert, genau wie er von 1914 bis zum November-Kladderadatsch für Krieg und Vaterland enthusiasmiert war. Daß ihm die 5 Jahre Straubing mancherlei Begeisterung zerquetscht haben, begreife ich: eine feste Überzeugung konnte ja bei diesem jedem Stimmengerausch zugänglichen Temperament garnicht Wurzeln schlagen. Aber recht interessant ist doch, daß derselbe Mann, dem die ehrlose Gesinnung deswegen zugeschoben wurde, weil er seine Überzeugung geändert hatte, nun der Strafrest erlassen wird, – weil er seine Überzeugung schon wieder geändert hat – nun allerdings nach der erwünschten Seite hinüber. Für mich wird durch diese Begnadigung – die mich dennoch froh stimmt, weil sie ja wirklich ein Anfang auch bei unsern ärmsten Genossen zu sein scheint – und die unmittelbar danach aktuelle Freilassung Tollers – die Annahme oder Ablehnung der Amnestie im Reichstag zu einer Schicksalsfrage auf Leben oder Tod. Bei Ablehnung habe ich, gleichviel welche Formen meine Krankheit noch annehmen wird, auf nichts mehr zu hoffen: denn ich bin der dritte und letzte Jude unter den bayerischen politischen Inhaftierten, – und daß die bayerische Regierung sich dem Odium aussetzen wird, ausgerechnet alle 3 Juden hintereinander herausgelassen zu haben, das bezweifle ich vorläufig. – Nach den heutigen Zeitungsmeldungen hat der Ältestenausschuß die Einberufung des Reichstags für den 22. Juli vorgesehn – unter Vorbehalt, ihn evtl. erst eine Woche später zu bestellen; sodaß also die Entscheidung möglicherweise wieder mehr in die Nähe rückt. Daß Toller grade vorher noch hinauskommt, betrachte ich als großen Glücksfall. An Instruktionen für seine Einwirkung in unser Verhängnis lasse ich’s nicht fehlen. – Zu wünschen wäre nur, der Reichstag entscheidet über uns an erster Stelle, denn wenn er erst die Gesetzentwürfe andrer Art erledigen wollte, könnten wir darüber leicht überhaupt in Vergessenheit geraten. Um die Zustimmung der Mehrheit zu den Ausführungsgesetzen zum Dawes-Gutachten zu bekommen, macht die Reichsregierung die verwegensten Manöver. Vor einigen Tagen hieß es schon, um die Deutschnationalen dazu zu bestimmen, die Majorität für die Entwürfe durch entsprechende „Abkommandierung“ von Mitgliedern ihrer Fraktion zu bewirken, seien ihnen Wiedereinführungen von Vorkriegsschutzzöllen als Äquivalent geboten worden, und tatsächlich wird schon jetzt der Gesetzentwurf über diese Zollpläne veröffentlicht, die eine neue schwere Belastung der arbeitenden Massen zugunsten des Privatkapitals – Großgrundbesitz und Großindustrie – bedeuten. Man kann wirklich gespannt sein, ob der Bogen niemals springen kann. Aber es scheint – trotz der grotesken Verfolgungen der Kommunisten unter den allergroteskesten Vorwänden und Beschuldigungen –, als ob man immer noch nur das Reißen der nationalistischen Geduldsfäden fürchtet. Am 20. Juli beginnt die neue Militärkontrolle, nachdem alle Hoffnungen Alldeutschlands auf neue En[t]zweiung der Alliierten wieder gescheitert sind (komisch genug waren ja die „Mißverständnisse“, „Verschärfungen“, „Entspannungen“ etc in der französisch-englischen „Links“-Politik in der letzten Woche). Vorerst finden immer noch patriotisch-monarchistische Aufzüge, Denkmalsweihen und Demonstrationen statt, bei denen, besonders in Bayern, Geßlers Reichswehr forsch mit Hitlergarden zusammen vor wittelsbachischen Prinzen defiliert. Und die Ängste der Völkischen vor der ausgleichenden Gerechtigkeit in Bayern scheinen auch noch nicht übertrieben groß zu sein. In Würzburg fand eine demokratische Frauentagung statt, und der völkische Geist betätigte sich teutonisch dadurch, daß Hakenkreuzfahrer ein paar demokratische Damen wegen ihrer schwarzrotgoldnen Abzeichen mit Vitriol begossen. Daß man die Täter nicht ermitteln kann, versteht sich von selbst. Immerhin gibt’s aber auch wieder Revolution, wenn auch zunächst bloß in Brasilien, wo es wild aufzugehn scheint, – leider erfährt man nur aus den Blättern nicht, worum es sich handelt. Wahrscheinlich doch um soziale Dinge. Nun, bei uns regelt man wieder einmal die Erwerbslosenunterstützungen. Da die Arbeitslosigkeit und das Elend ständig steigen, wird hierzulande daraus die Konsequenz gezogen, daß man die Unterstützungen vermindert, und über die Einführung des einjährigen Arbeitsdienstjahres allen Ernstes disputiert. – Aber inzwischen regnen doch auch Amnestieen über die Opfer des Elends und der politischen Leidenschaften – vorerst freilich bloß im Frankreich Herriots und im Spanien de Riveras. – Bei uns? – Heute sinds 5 Jahre her, seit über Wadler und mich der Standgerichtsspruch niederfuhr – und in etwa 14 Tagen werde ich wissen, ob ich wieder Mensch sein darf oder in dieser Vernichtungsanstalt jusqu’au bout frikassiert werden soll.

 

Niederschönenfeld, Dienstag, d. 15. Juli 1924

½ 2 Uhr. Eben – vor 20 Minuten ungefähr – hat Toller dies Haus verlassen. Er ist also 24 Stunden vor Ablauf seiner Festungszeit entlassen worden, wie wir vermuten unter Geleit von Kriminalern, das er ja, solange er noch Festungsgefangener ist, nicht zurückweisen kann. Bei einer solchen Trennung ist natürlich das Gemüt etwas in Bewegung, und so will ich für den Augenblick nur Tatsachen aufzeichnen. Im Augenblick recken sich die Genossen am Gangfenster noch die Hälse aus, um zu sehn, wann und wie er fortgeht. Ich vermute, daß er garnicht mehr sichtbar werden wird, und daß man ihn im Wagen nach Donauwörth fahren wird, über die Donaubrücke zu unsrer Linken, die wir von keinem Fenster aus sehn können. Ein seltsames Vorspiel dieser Entlassung gab es gestern Abend, als Ernst Toller, an sein Versprechen erinnert, den Genossen noch einmal aus seinen Werken vorzulesen, auf dem Mittelgang anfing, „Masse Mensch“ zu rezitieren. Seit uns der Gemeinschaftsraum gesperrt ist, haben wir ja nur noch die Korridore, um alle beieinander sitzen zu können. Toller las noch keine 5 Minuten, als Herr Oberwachtmeister Rainer erschien und verkündete, es dürfe ohne ausdrückliche Genehmigung des Vorstands kein Vortrag gehalten werden. Es wurde natürlich protestiert und dem Manne bedeutet, es handle sich um keinen Vortrag, sondern um eine Vorlesung, die stets ohne jede Genehmigung habe stattfinden dürfen. Herr Rainer erklärte: Ich verbiete!, Toller fuhr indessen einfach mit der Vorlesung fort, da ein derartiges Verbot nur vom Vorstand ausgehn könne, und Millmann, der sich über diesen Eingriff, der uns alle maßlos empörte, so aufregte, daß ihm das Wort „Gemeinheit“ herausplatzte, wurde sofort in Einzelhaft abgeführt. Herr Rainer verzog sich dann, und zu unserm Erstaunen konnte Toller nun ohne weitere Störung sein Drama vorlesen (er ist ein glänzender Interpret seiner Stücke, und dieses Stück ist von seinen früheren Arbeiten das weitaus stärkste). Um 8 Uhr war er fertig, und gleich darauf erschien zu allgemeiner Überraschung Millmann wieder bei uns oben. Er berichtete: nachdem er in eine Absonderungszelle gesperrt war, kam Herr Fetsch, der ihm im Auftrag des Vorstands eröffnete, er habe sich zu einer ungebührlichen Äußerung hinreißen lassen, doch solle es für diesmal bei einer Verwarnung sein Bewenden haben, da die Verwaltung wünsche, möglichst „in Harmonie“ mit den Festungsgefangenen auszukommen. Zur Sache sei zu sagen, daß eine Abschiedsfeier der Genehmigung durch den Vorstand bedürfe, der sie aber nachträglich erteilt habe. Herr Rainer sei noch nicht lange wieder im Dienst bei uns (!) und so habe er nicht gewußt, daß sich im gegenseitigen Verhältnis eine Änderung entwickelt habe, – kurz und gut, eine Schamade, wie sie hier noch nicht erlebt ward. Von den Kommentaren, die sich an diese merkwürdige Episode schlossen, will ich schweigen, will auch heute davon absehn, auf meinen guten Ernst Toller einen Nekrolog zu schreiben. Wir sind als sehr gute intime Freunde geschieden und werden es bleiben. Ich glaube, daß dies Ergebnis wesentlich meinen Tagebüchern zuzuschreiben ist. Eine verärgerte unfreundliche Bemerkung über Ernst T. ist dem bayerischen Landtag vorgelesen, der bayerischen Presse zur Verwendung übergeben und von Müller-Meiningen in seinem Buch „Aus Bayerns schwersten Tagen“ gegen uns beide benutzt worden. Diese Möglichkeit hatte ich damals schwerlich voraussehn können, fühlte mich aber schuldig und habe versucht wieder gut zu machen. So hat uns die ungeheuerlichste Indiskretion von Behörden einander zugeführt und uns, die sie durch Denunziation privater Gelegenheits-Empfindungen auseinander und gegeneinander bringen wollte, zu Freunden gemacht. Jetzt muß ich einen Brief schreiben an – Herrn Reichstagsabgeordneten Alwin Saenger, jenen Münchner Herrn, der erklärt hat, er möchte Arco und Lindner nicht wieder auf den Münchener Straßen begegnen. Er hat nämlich mir geschrieben, – anstelle von Löbe als Antwort auf meinen Brief mit Sauber, worin wir vor Beginn der 1. Lesung des Amnestiegesetzes die Fraktion auf eine Anzahl Eingaben an den Rechtsausschuß aufmerksam machten. Saenger teilt mit, daß der Reichstagsausschuß [sich] 2 Tage vor dem Plenum, „also vor dem 22. oder 29 Juli“ zusammentritt, um den von ihm entworfenen Antrag weiter zu beraten. Der Brief schließt sehr vorsichtig: „Nachdem auch Prof. Kahl die Berechtigung dieser unsrer Forderung anerkannt hat, kann man wohl etwas mehr Hoffnung in der ganzen Angelegenheit haben.“ Das ist zwar sehr unbestimmt ausgedrückt, – aber daß dieser gerissene Advokat überhaupt Hoffnung macht und die Äußerung Kahls hervorhebt, stimmt mich überaus optimistisch und ich denke, wir dürfen jetzt wirklich hoffen, daß der Abschied Tollers der letzte Abschied eines Einzelnen aus diesem Käfig war. Wir sind jetzt 13 Mann, – mag diese Unglückszahl der Festung Niederschönenfeld den Rest geben!

 

Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 17. Juli 1924

Zu Tollers Entlassung noch ein paar nachträgliche Anmerkungen. Erst nach ½ 3 Uhr – wir waren im Hof und linsten durch die Plankenritzen auf die Rainer Chaussee hinüber – bemerkten wir Bewegung, Ernst ging, von 3 Männern begleitet fort, vor ihm und hinterher fuhren Radfahrer. Ein Automobil trieb Staub auf – und wir konnten nicht erkennen, ob es zu diesem Geleit gehörte oder zufällig des Weges fuhr. – Erst gestern nachmittag erfuhren wir mehr. Gustl erhielt – nach vollen 24 Stunden! – den Zettel, in dem Ernst Aufschlüsse gab. Es sei ihm eben eröffnet worden, daß er von 2 Kriminalbeamten bis an die bayerische Grenze begleitet werde. Da er seine Gesinnung nicht geändert habe, bedeute sein Verbleiben in Bayern eine Gefahr für den Staat, der durch seine Ausweisung begegnet werden müsse. (Hierzu gehört die letzte Zeitungsnachricht, die die völkischen Angriffe gegen Wadlers Freilassung entkräften soll. Ein Organ der Bayerischen Volkspartei verteidigt W. gegen die Antisemiten mit der Behauptung, er sei garkein Jude. Es stehe fest, daß er in Straubing wiederholt den Zuspruch des katholischen Geistlichen verlangt und erhalten habe. Diese Gesinnungsänderung war also im Gegensatz zu der, mit der man seine Zuchthauswürdigkeit begründete, nicht ehrlos, sondern des Lohns der Freiheit wert). – Morgen wird Toller wohl in Berlin eintreffen, und sein Quartier bei Zenzl bereitet finden. Wenn es bei der Entscheidung des Ältestenausschusses bleibt und der Reichstag am nächsten Dienstag, der Rechtsausschuß also am Sonnabend zusammentritt, dann ist er grade zur rechten Zeit da, um evtl. auf schwankende Gemüter noch günstig einwirken zu können. Ich hoffe sehr, daß die Verschiebung um eine Woche, die für den Notfall vorgesehn war, nicht stattfindet. Dieses Warten in völliger Ungewißheit ist eine derartige Tortur, daß eine einwöchige Verlängerung dieses Hangens und Bangens den Nerven mehr zusetzt als eine Reihe von Jahren, auf die man sich eingerichtet hat. – Und, ich möchte es Zenzl so herzlich gönnen, daß wir ihren 40. Geburtstag (am 28ten) wirklich schon gemeinsam feiern können. Sie hat sich’s so in den Kopf gesetzt. – In Frankreich ist die Amnestie angenommen worden. Das wird den Befürwortern der Amnestiepolitik bei uns wohl eine moralische Stärkung geben. Eben tritt die Konferenz in London zusammen, über deren Beschlüssen bei uns sämtliche Parteien den andern den Hals abdrehen zu können hoffen. Wahrscheinlich wird diese Konferenz in der Tat fast alles entscheiden, was in Deutschland nach innen und außen für Jahre hinaus für eine Politik getrieben wird. Und ich glaube, daß auch das Versöhnungstheater, das dort die internationale Finanzwelt dem internationalen Proletariat vorspielen wird, dazu beitragen wird, die Stellung der Amnestiepolitiker im Reichstag zu stärken. – Allerdings, wir waren schon zweimal – 1920 und 1922 – in der Lage, unmittelbar vor der Aussicht zu stehn, freizukommen, und beide Male wurden wir den bayerischen „Hoheits“-Ansprüchen geopfert. Die Möglichkeit besteht auch jetzt wieder, aber sie scheint mir nicht mehr übertrieben drohend zu sein. So gebe ich mich dem fast närrischen Gedanken mit einiger Zuversicht hin, daß ich in der nächsten oder übernächsten Woche vielleicht den ganzen Alpdruck dieser 5 Jahre von der Seele habe und meine Ruhe und meinen Frieden im eignen Heim, den müden Kopf an Zenzls heißem Herzen, finde. Werde ich die Kraft haben, soviel Glück zu tragen?

 

Niederschönenfeld, Freitag, d. 18. Juli 1924

Stimmt es, was der Vorwärts meldet, dann ist die Einberufung des Reichstagsplenums jetzt wirklich auf den 22. Juli festgesetzt. Demnach träte morgen der Rechtsausschuß zusammen. Da das Programm der ersten Vollsitzung die Beratung des Amnestiegesetzes noch nicht mit aufzählt (doch heißt es, der Reichstagspräsident behalte sich Ergänzungen noch vor, die jedenfalls von der Tätigkeit der Ausschüsse abhängen), so scheint man damit zu rechnen, daß evtl. die Beratungen über die Amnestiegesetze den Rechtsausschuß mehrere Tage lang beschäftigen werden. Nun also Mut. Saenger, für den es sich ja in diesem Fall um eine persönliche Prestigesache handelt, durfte sogar in der Münchner Post für die von ihm entworfenen Anträge werben, und der Auer-Vater mußte den zwar kurzen, immerhin aber nicht zu verschleiernden Passus, der auch unsre Freilassungs-Forderung streift, im Organ seiner Rache passieren lassen. – So wird also nun aller Voraussicht nach die Woche, die vor uns liegt, uns in den Himmel des Glücks tragen – oder uns in die Hölle zurückstoßen bei vermehrter Qual und vervielfachter Hoffnungslosigkeit. – Psychologisch höchst interessant ist mir jetzt das Verhalten der Haftgenossen. Es ist natürlich niemand da, dem nicht das Herz im Leibe tanzt vor Spannung, Verlangen und Zweifel. Aber wie auf Verabredung tragen die Meisten eine Miene zur Schau, mit der sie überlegene Gleichgiltigkeit oder vollkommene Gewißheit, daß es doch wieder nichts wird, markieren möchten. Ich muß ja leider immer noch darauf verzichten, hier Betrachtungen über die Charaktere der Mitgefangenen anzustellen: noch kann ich nicht wissen, ob man nicht wieder Material über politisch Mißliebige aus diskreten Aufzeichnungen ihrer Genossen in den bayerischen Zeitungen veröffentlichen wird, falls die Enttäuschung – wie es 1920 und 1922 war, der bayerischen Justiz Anlaß gibt, gegen uns dann erst recht wieder mit härtesten Schikanen vorzugehn und vor allem unsre Papiere zu beschlagnahmen. Sonst könnte ich die einzelnen Figuren grade augenblicklich in sehr bezeichnenden Stellungen momentphotographieren. Ich selbst kann über das, was die Seele erregt – und ganz gewiß nicht meine allein – kaum mehr mit einem andern sprechen als mit Sauber. Das ist allerdings begreiflich. Seine Frau hat diese 5 Jahre neben meiner Zenzl am stärksten und treuesten ihr Herz und ihren Charakter bewährt, und er hat (wenn Karpf nicht gezählt wird, der mit Bestimmtheit rechnet, in jedem Fall binnen kurzem Bewährungsfrist zu kriegen) nächst mir die weitaus längste Zeit noch vor sich. So hat sich – selbstredend ohne daß im Innern unsrer Seelen irgendetwas Früheres vergessen wäre, – in letzter Zeit zwischen uns ein, wenn auch nicht freundschaftliches, so doch ein gut kameradschaftliches Verhältnis herausgebildet. Wir wissen zu gut, daß wenn alle Stricke wiedermal reißen sollten, wir beide eines Tages ganz auf einander angewiesen sein werden. Schicksalsgemeinschaft ist stärker als die erbittertste Gegnerschaft in Prinzipien. – Eine große Frage ist, was aus denjenigen Genossen wird, die bei Annahme des sozialdemokratischen Antrags nicht ohne weiteres in Freiheit gesetzt werden müssen. Außer den beiden Eisenbahnern vom Flora-Prozeß, Leykam und Millmann haben wir noch 3 Genossen, die zwar schon lange vom Reich amnestiert worden sind, aber von Bayern trotzdem gefangen gehalten werden. Da ist der Gustl und der Sepp, die auf Grund der Amnestie von 1922 hätten entlassen werden müssen, und da ist Hackl, der wegen seiner Beteiligung an Geschichten im Anschluß an den Kappputsch 6 Monat Festung zu machen hat (da er inzwischen volle 4 Jahre wegen andrer Sachen im Gefängnis und im Zuchthaus absitzen mußte, hat sich die Verbüßung bis jetzt hingezögert. Ich ließ mir dieser Tage sein Urteil zeigen. Er wurde erst Ende August 1920 prozessiert, also 3 Wochen nach Erlaß der Reichsamnestie. Daß sein Delikt mit dem Kappputsch zusammenhing, wird darin ausdrücklich bestätigt, die Amnestie jedoch nicht erwähnt. Ich habe Hackl gefragt, ob man sich nicht darauf berufen habe. Doch. Aber das „Volksgericht“ stand auf dem Standpunkt, daß das Bayern nichts angehe!) – Wir werden also, falls man diese Genossen nicht mit uns freiläßt, gleich vor der Aufgabe stehn, ihre Befreiung zu betreiben, mindestens aber diese Fälle öffentlich bekannt zu machen. Zum Glück sind alle 5 Genossen, die in Frage kommen, im November ohnehin mit dem Rest ihrer Strafen fertig. Daß man sie in Bayern nicht gutwillig freigeben wird, kann man leider sicher erwarten. Eben hat Herr Held im Landtag wieder erklärt, daß man gegenüber politischen Verbrechern allerdings den Unterschied machen müsse[n], ob sie eine positive Staatsgesinnung haben oder nicht. Außerdem dokumentiert sich grade jetzt wieder hier im Hause jene „Liquidation“, die die Regierung Held-Stützel zu vollziehn haben soll. In München hat der große Prozeß gegen 63 Kommunisten stattgefunden, die gegen die Kahrschen Verordnungen, wonach ihre Partei aufgelöst wurde, verstoßen haben sollen. Mit Ausnahme von 3 Genossen waren sämtliche Schutzhäftlinge vom II Stock mitangeklagt. Jetzt ist das Urteil da: Dr. Karl Franck, der kürzlich über 20 Tage im Hungerstreik war erhielt 7 Monate Gefängnis. Wie wir erfahren haben, hat man seine Frau, die von Berlin nach München kam, um dem Prozeß beizuwohnen, verhaftet und über die Grenze abgeschoben. Im Übrigen wurden die Angeklagten zu Strafen von 6 Monaten bis herunter zu 5 Tagen Gefängnis verurteilt. Die Untersuchungs- bzw. Schutzhaft wurde angerechnet. 7 Angeklagte wurden freigesprochen, darunter (neben Vater Thierauf) auch Schwab, der gleichwohl, ebenso wie etliche andre, denen die Strafe als abgebüßt anerkannt wurde, einfach wieder hergebracht wurde. So wird in Bayern „Recht“ geübt. – Ich will froh sein, wenn ich die Grenzen dieses Landes hinter meinem Rücken wissen werde. Solange sich das Proletariat Bayerns nicht von selbst gegen soviel Unrecht und Gehässigkeit auflehnt, kann ihm irgendwelche Agitation, irgendwelche Bemühung von Einzelnen auch nicht auf die Beine helfen. – Auch bin ich leider körperlich nicht mehr gesund genug. Vorerst muß ich ausrasten, – so schwer es mir sein wird. Wenn man mich später wieder einmal rufen sollte – und warum sollte das grade in Bayern sein? – werde ich den Kampf aufnehmen.

 

Niederschönenfeld, Montag, d. 21. Juli 1924

Immer noch der gleiche Zustand folternder Erwartung. Eben kamen die Zeitungen. Der Rechtsausschuß hat schon am Freitag die Beratung aufgenommen, und zwar zunächst über den weitgehenden kommunistischen Antrag, der offenbar völlig aussichtslos ist – trotz der ebenso weitgehenden grade beschlossenen Amnestie in Frankreich, Spanien und jetzt auch in Bulgarien (wo augenblicklich sehr revolutionäre Dinge vorzugehn scheinen). Saenger erklärte, seine Partei behalte sich vor, zu den kommunistischen Anträgen im Einzelnen Stellung zu nehmen und verteidigte noch einmal den sozialdemokratischen Antrag. Zugleich beantragte er, die Sitzung um 1½ Stunden zu vertagen und inzwischen Toller zu hören, der im Hause sei und über die Niederschönenfelder Erlebnisse referieren wolle. Der Vertreter der bayerischen Regierung und Herr Dr. Pfleger von der bayer. Volkspartei protestierten. Kahl (der scheinbar jetzt immer für alle 3 Mittelparteien auftritt) sprach sich ebenfalls dagegen aus, und so wurde Tollers Referat abgelehnt, jedoch bekanntgegeben, daß er tags darauf (also vorgestern) vor denjenigen Mitgliedern des Ausschusses, die ihn hören wollen, berichten werde. Nach dem kurzen Bericht der Frankfurter Zeitung eiferten dann die Bayern Pfleger und Preger heftig gegen jede Amnestie und besonders gegen die Nachprüfung der Volksgerichtsurteile. Fechenbachs Urteil stehe jetzt grade vor der Entscheidung des neuen Kabinetts. Über die Niederschönenfelder Beschwerden sei dem bayerischen Landtag schon so erschöpfende Auskunft gegeben, daß auch die Sozialdemokraten dort die Entsendung eines Untersuchungsausschusses nicht mehr verlangt haben. (Das ist völlig richtig, und Dr. Alwin Saenger bekommt es in dem Moment um die Ohren geschlagen, daß er bisher mit den Kühleweinreisenden zusammen jede Rettung für uns verweigerte, wo er zum ersten Mal etwas für uns tun möchte. So kann er auch nicht die einzig mögliche und völlig zutreffende Antwort geben, daß „die erschöpfenden Auskünfte“ über uns vor jeder Kontrolle als Lügen entlarvt worden wären). Man bestritt natürlich dem Reichstag auch wieder jedes Recht, nach Bayern hinein zu begnadigen, und Herr Prof. Kahl – von dessen Rede die Zeitung allerdings nur ein paar Zeilen bringt, hätte sich danach mit uns garnicht beschäftigt, aber die Forderung nach Fechenbachs Begnadigung wiederholt. Über den Antrag zur Nachprüfung der Volksgerichtsurteile wurde ein neuer Untersuchungsausschuß eingesetzt, und die Sitzung dann vertagt. Vermutlich sitzen die Herren also heute wieder beisammen und knobeln um unser und unsrer Lieben Schicksal, das nun von Gott weiß was für Zufälligkeiten abhängen mag. Ob man im Ausschuß heute schon fertig wird, ist sehr zweifelhaft, da man ja auch noch die völkischen und deutschnationalen Amnestieanträge beraten soll. (Daß dabei ein Kompromiß herauskommt, das uns auf der linken, Jagow und die Kappputschiner auf der rechten Seite herausbringt, darauf gründen sich hier die Haupthoffnungen; aber grade da fürchte ich die Sozialdemokraten, denen die Zustimmung zu Jagows Befreiung ein zu teurer Preis für die unsre sein könnte). Mit dem Untersuchungsausschuß kann möglicherweise auch wieder viel Zeit verloren gehn, sodaß die Hoffnung, zu Zenzls 40. Geburtstag bei ihr zu sein, wieder stark gedämpft ist. Natürlich braucht man, solange sich nichts geändert hat in der Gesamtsituation, den Kopf nicht hängen zu lassen. Wenn Ernst Toller unsre Sache vor den Rechtsausschußherren gut vertreten hat, kann das im Gegenteil noch als Vermehrung der Chancen angesehn werden. – Aber das Geduldspiel mit unsern Nerven jetzt soll der Teufel holen.

 

7 Uhr abends. Die Zeitungen berichten: der Rechtsausschuß hat alle Amnestieanträge abgelehnt. – Lasziate ogni speranza –: aber das fällt mir nicht ein!

 

Niederschönenfeld, Dienstag, d. 22. Juli 1924

Es müßten schon noch ganz unwahrscheinliche Dinge passieren, wenn jetzt noch am Grabe die Hoffnung aufgepflanzt werden dürfte. Ganz unmöglich ist es ja nicht, daß der Ausschußbeschluß vom Plenum noch umgestoßen würde. Aber, wenn ich in der Beurteilung der Sache Recht habe, dann haben die Sozi uns eben lieber weiter hängen lassen als den einen Herrn v. Jagow in Gollnow in seinen Jagdvergnügungen zu stören, und die Herren Papst, Bauer, Bischof ihre völkische Tätigkeit statt ungestört vom Ausland aus, etwas mehr behelligt in Deutschland selbst treiben zu lassen. Auer hat Glück. – Was mich trübe stimmt, ist der Gedanke an Zenzl, die furchtbar unglücklich sein wird. Ihre ehrliche Natur wird sich schwer in diesen Höllensud der Politik hineinfinden können, in dem wir wieder einmal geschmort worden sind. Hätten vor 3 Wochen die Völkischen und Deutschnationalen ihren Vertagungsantrag nicht eingebracht, dann wären wir – das war aus Kahls Aeußerung deutlich zu entnehmen, sehr wahrscheinlich frei geworden. Inzwischen ist in Bayern die Held-Regierung gekommen und man will ihr, die die reichsfeindliche Eigenartistik etwas dämpfen will, nicht gleich in die Hoheit fahren. Allerdings hat der Rechtsausschuß mit dem Beschluß, niemanden zu amnestieren, den prinzipiellen Grundsatz postuliert, daß das Reich berechtigt sei, Amnestien auch für Länder zu beschließen. Man rettet halt das Dekorum. Vor 3 Wochen hatte man auch noch Gründe, der Sozialdemokratie allerlei Zugeständnisse zu machen, da man sie zur Annahme der Gesetze im Anschluß an das Dawesgutachten nötig brauchte. Inzwischen ist aber einerseits die Sozialdemokratie völlig festgelegt auf die Annahme dieser Gesetze, andrerseits liegt der Regierung selber nicht mehr soviel daran, die Rechtsopposition in dieser Sache unbedingt niederzustimmen. Denn die Einleitung der Verhandlungen auf der Londoner Konferenz, die bis jetzt ohne deutsche Beteiligung stattfindet, also stark nach neuem Diktat riecht, verstimmt hierzulande nicht bloß mehr deutschnationale Patrioten, zumal im Vordergrund wieder die „Sanktionen“ bei „Verfehlungen“ erörtert werden – und da hat man ja schon schlechte Erfahrungen gemacht. Es kann also ganz gut sein, daß man schon garnicht ungern die Ablehnung der gesamten Pläne in Kauf nehmen würde, um bei den Nationalisten populär zu werden. Umgekehrt aber legt man bedeutend größeren Wert darauf, für die Majoritätsbildungen unter Umständen ausschlaggebende Gruppen wie die Bayerische Volkspartei jetzt nicht zu verstimmen, wo es sich für die Regierung und die Parteien der Mitte in erster Linie darum handelt, die neue Schutzzollgesetzgebung ins Reine zu bringen. An diesen politischen Roßtäuschererwägungen dürften wir kaput gegangen sein. Völlig verzweifelt stehn unsre Aussichten wohl insofern noch nicht, als vielleicht die Amnestiefrage, da jetzt überhaupt nichts herauszukommen scheint, in verhältnismäßig kurzer Zeit wieder aktuell werden kann. Die Völkischen sind ebenso ausgerutscht wie wir, ebenfalls die Deutschnationalen mit ihren paar Leuten von 1920. Sie werden bald wieder anbohren, ihnen wird man lieber entgegenkommen als den Sozialisten, aber trotzdem wird die Mitte ihnen keine noch so kleine Teilamnestie bewilligen, wenn nicht zugleich die seit 1919 eingesperrten Bayern als „verjährt“ freikommen. Wir müssen ja auch noch abwarten, bis wir mehr erfahren haben über den Verlauf der Ausschußdebatte und über die Verhandlungen im Plenum darüber, die frühestens heute stattfinden. Ich halte es für sehr möglich und fast wahrscheinlich, daß der Reichstag eine solche unpopuläre Ablehnung mit einer scheingnädigen Geste bemänteln und etwa auf den Radbruchschen Opportunitätsantrag vom vorigen Jahr zurückgreifen wird (der im Rechtsausschuß begraben wurde), anstelle einer Amnestie eine Resolution zu beschließen, wonach die Reichsregierung beauftragt wird, auf die bayerische Regierung einzuwirken, die Räterepublikaner zu begnadigen. Vielleicht hat Herr v. Preger eine ähnliche Zusicherung schon gegeben, und möglicherweise ist darauf auch schon die neueste plötzliche Entlassung hier zurückzuführen, die uns gestern überraschte. Sie betrifft Fuchs, von dem heute schon eine Karte da ist. Er schreibt, ihm sei eröffnet worden, daß sein Gesuch um Bewährungsfrist unter dem 9. Juli abgelehnt worden sei, daß aber soeben (gestern) telegrafisch die Anweisung gekommen sei, ihn auf Strafunterbrechung bis auf weiteres sofort herauszulassen. Allerdings ist bei ihm vielleicht das Moment entscheidend gewesen, daß seine tuberkulöse Frau in der letzten Woche von einen neuen Blutsturz betroffen wurde und daher in höchster Lebensgefahr ist. Immerhin gibt die rasche Entschlußänderung zu denken. – Toller hat also vor etlichen Reichstagsabgeordneten gesprochen. Anwesend waren die Rechtsausschußmitglieder der sozialdemokratischen und der kommunistischen Partei und ein Demokrat. Nach den Berichten hat er die Zustände in Niederschönenfeld in so dunkeln Farben geschildert, wie sie es verdienen, jedoch bei der Schilderung der Ungerechtigkeit, mit der die Prozesse durchgeführt wurden, den Sozialdemokraten unverdiente Schonung bewiesen. Er soll nämlich erklärt haben, daß man bei der Auswahl der Prozessierten die „sozialistischen und kommunistischen“ Räterepublikaner gegen die bauern[d]bündlerischen ungebührlich benachteiligt habe, sodaß jetzt sogar noch die bayerischen Sozialdemokraten als Märtyrer gefeiert werden. Na, man wird ihm der Opportunität wegen dazu geraten haben. Aber daß die Auerochsen um die richtige Kennzeichnung nicht kommen sollen, dafür hoffe ich noch einmal sorgen zu können, – es sei denn, es wären wirklich jetzt auch die letzten Hoffnungen eitel, die Ablehnung der Amnestieanträge im Reichstag bedeuteten wirklich eine Neuverurteilung für Jahre, – und ich hätte dabei recht in der pessimistischen Beurteilung meines Gesundheitszustandes, in welchem Falle ich sicher nicht anders als Hagemeister aus diesem Kerker herauskäme. Vorerst aber glaube ich das nicht. Im Oktober wird für Hitler und die Seinen die Bewährungsfrist fällig. Angenommen selbst, daß man sie ihnen wegstreichen sollte, wozu die bayerische Volkspartei große Lust zu haben scheint, (Herr Schäffer enthüllte zu diesem Zweck schon alle möglichen ursprünglichen Pläne der Nationalsozialisten und ein parlamentarischer Untersuchungsausschuß in München überprüft die Vergangenheit), so werden Vaterländische Verbände, patriotische Vereinigungen etc und auch die deutschnationalen Koalitionsbrüder der Regierung wegen einer Amnestie solange zusetzen, bis sie nicht mehr herumkann, und Graf Pestalozza hat darüber ja kürzlich im Landtag erklärt: wenn schon Amnestie, dann eine, die nach beiden Seiten wirkt. Noch ist also kein Grund zum Verzweifeln, wenn auch die Stimmung hier drinnen nicht schön ist. Wir 12 Mann – von denen die Hälfte seit 5 Jahren sitzt – müssen zusehn, wie wir weiter durchhalten. 7 Genossen werden noch in diesem Jahr frei, von den 5 Letzten haben Kain und Karpf wohl mit Bewährungsfrist in absehbarer Zeit zu rechnen. Sauber, Olschewski und ich bleiben übrig – und die armen Genossen im Zuchthaus. Wären die Menschen nicht so phantasielos, dann wären sie auch gegen uns paar Leute barmherzig.

 

Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 24. Juli 1924.

Heute vor 10 Jahren feierten wir in München Frank Wedekinds 50. Geburtstag. 8 Tage später war Krieg, und die Menschheit zerfiel in Freunde, Feinde und Miesmacher, welch letztere dann als Feinde der Menschheit übrigblieben und heute noch als Anstifter des Kriegs, Verlängerer der Schweinerei, als Dolchstößer in den Rücken des siegreichen Heeres, als Verräter in Compiègne und Versailles, als die Verursacher der Hungersnot, der Inflation, des Elends der Welt und Vernichter aller Freude und Hoffnung bespuckt, beschimpft und eingesperrt sind, – soweit sie nicht ermordet wurden. Wedekind hat das Ende des Kriegs und die Revolution nicht mehr erlebt. In München hätte er die Zeit bis jetzt wahrscheinlich auch wenn er inzwischen keines natürlichen Todes gestorben wäre, nicht lebend genießen können. Er war ein großer Geist, der in diesem Bayern nicht ertragen worden wäre. Man hätte ihn, so er nicht die Flucht ergriffen hätte, umgebracht. – Nun, und ich sitze seit jenem 50. Geburtstag die größere Zeit schon hinter Schloß und Riegel, in dem angenehmen Bewußtsein, daß die parlamentarischen Vertreter der Bourgeoisie zwar der Ansicht sind, man könne unsre Strafbarkeiten getrost als verjährt betrachten, es aber dennoch vorziehn, uns für weitere Jahre zu verurteilen. Zenzl hat mir einen ergreifenden Brief geschrieben; sie ist wunderbar schön in ihrem Leid und in der Größe, mit der sie es trägt. Könnte ich’s ihr nur durch Zärtlichkeit und Rücksicht je wieder vergelten! Hieran zu verzweifeln wäre Torheit. Noch bevor die letzte „Drehscheibe“ ganz ausgetrudelt ist – das Plenum des Reichstags hat bis jetzt den Stein noch nicht über das Grab unsrer Hoffnungen gewälzt, und da das Stimmenverhältnis im Ausschuß nur 13 : 12 für die Ablehnung unsrer Amnestierung ergab, kann eine Zufallsmehrheit im letzten Augenblick noch Heil bringen –, aber noch vor der endgiltigen negativen Erledigung der Sache im Reichstag haben die Hoffnungen schon wieder einen neuen Anhaltspunkt. Der Ausschuß hatte die Frage, ob der Antrag auf Zulassung der Wiederaufnahme von Volksgerichtsprozessen konstitutionell sei – d. h. vereinbar mit den bayerischen „Hoheits“rechten – einem besonderen Untersuchungsausschuß überwiesen, der sie bejaht hat, und der Rechtsausschuß selbst hat darauf die Annahme beschlossen. Ich habe gestern gleich an Radbruch geschrieben, zunächst um ihn zu veranlassen, festzustellen, ob die Wiederaufnahme dann auch für unsre Standgerichtsprozesse möglich wird, bzw. bei seinen Parteigenossen zu bewirken, daß wir nicht etwa durch ein bloßes Übersehn von der Vergünstigung ausgeschlossen werden, ferner ihn anzufragen, ob er evtl. meine Sache vor dem Reichsgericht führen wolle. In diesem Falle habe ich mich mit Sauber und Olschewski verständigt, daß wir unsre Prozesse dann in einem gemeinsamen Verfahren wieder aufrollen lassen, da wir nach Egenspergers Entlassung die letzten sind, die sich gegen die rückwirkende Anwendung des Standrechts wehren können, also den formalen Anlaß zur Wiederaufnahme ohne weiteres anführen können. – Im bayerischen Landtag hat man augenblicklich die Klassenjustiz in der Reißen. Herr Dr. Högner – der sozialdemokratische Renommierstaatsanwalt – begründete die Interpellation. Er verglich zwar wirksam die Urteile gegen die Völkischen mit denen gegen uns, fand aber kein Wort für die Forderung, die Räterepublikaner, die schon länger in der qualvollsten Haft sitzen, als Hitler und Genossen im Ganzen selbst dann zu sitzen hätten, wenn man ihnen die zugebilligte Bewährungsfrist bis auf den letzten Tag striche, endlich freizulassen. Daß diese Unterlassung – nachdem der Rechtsausschuß des Reichstags bereits erklärt hat, nichts für uns tun zu wollen, zufällig sein sollte, macht mir kein Mensch weis. Sie bleiben sich immer gleich. – Im Reich aber guillotiniert der „Staatsgerichtshof zum Schutz der Republik“ arme kommunistische Arbeiter in gradezu entsetzlicher Weise. Erst die Stuttgarter, jetzt auch die Königsberger „Hochverräter“ werden zu den wahnsinnigsten Zuchthausstrafen verdonnert: 5, 7, 9 Jahre, daß es nur so platscht. Aber die Wirtschaftskrise nimmt immer tollere Formen an, die nächste Zeit wird eine Arbeitslosigkeit bringen, wie sie noch nie erlebt worden ist, – und in Deutschland begegnet man ökonomischen Schwierigkeiten mit immer den gleichen Mitteln: Patronen und Zuchthaus. Hätten wir nicht das Versagen der Arbeiterschaft im vorigen Herbst erlebt, als sogar Stresemann konstatierte, kein Volk der Welt hätte sich die Zumutungen ohne Revolution gefallen lassen, die sich das deutsche bieten ließ, – dann könnte man immer noch Hoffnung haben, das Proletariat werde sich endlich auf sich besinnen und seine politischen Gefangenen aus eigner Macht amnestieren. Leider bin ich seit dem vergangenen Herbst in dieser Hoffnung, die mich die ganzen Jahre stützte und stärkte, irre geworden. Möge dieser Pessimismus unrecht haben. Wie gern wollte ich dann alle Pein dulden und fröhlich ausharren.

 

Niederschönenfeld, Sonnabend, d. 26. Juli 1924

Als ich vorgestern die Eintragung hier beendet hatte, kam mir ein verwegener Einfall. Grade die Überlegung am Schluß der Bemerkungen, daß im Augenblick und vielleicht noch für lange Zeit wenig Chancen für eine levée en masse zu bestehn scheinen – die ewigen Revolutionsreder[er]eien der Kommunisten, die von Moskau aus wie die Kamele gegängelt werden und zwar jeweils dahin, wo es grade der russischen Staatspolitik zuträglich scheint, haben selbst die besten und kampfreudigsten Teile des deutschen Proletariats ermüdet –, diese bittere und trostlose Erkenntnis veranlaßte mich zu einem Schritt, wie er mir im ersten Moment selbst als hanebüchenste Grundsatzlosigkeit erschien. Nämlich: die Äußerung des Prof. Kahl im Rechtsausschuß, man könne nach Meinung seiner Parteifreunde unsre Sache verjährt sein lassen war sicherlich eingegeben von dem Bestreben, diese Sache aus rein menschlichen Erwägungen aus der Welt zu schaffen, die man juristisch und staatspolitisch eigentlich nicht mehr verteidigen aber auch nicht angreifen konnte, ohne doch den bayerischen Empfindlichkeiten zu nahe zu treten. Kahl wollte also wohl den Demokraten und Zentrumsleuten den Tip geben, wie sie um die Sache herumkämen, während seiner eignen Partei aus Rücksicht auf die Bayern und die Deutschnationalen die Ablehnung empfohlen werden sollte, die aber nur den äußeren Schein wahren und uns die Freilassung nicht durchkreuzen sollte. Dann haben, außer einzelnen Herren von der Mitte die meisten doch einfach so gestimmt, wie sie es die Deutsche Volkspartei tun sahen, – wenigsten bin ich immer geneigt, derartige Beschlüsse, die keine allzuwichtigen Klassengrundsätze betreffen, aus der mehr oder minder zufälligen Augenblickskonstellation abzuleiten und nicht unter allen Umständen und überall nur den Ausdruck historischer Notwendigkeiten zu suchen. Vielleicht täusche ich mich in diesem besonderen Fall, vielleicht haben die Veränderungen in der politischen Gesamtsituation tatsächlich zu bewußter Umstimmung bei den maßgebenden Parteien geführt, – immerhin war die Möglichkeit gegeben, daß unsre Neuverurteilung im Rechtsausschuß eine Zufallslaune des parlamentarischen Majoritätsprinzips war. Ich überlegte weiter: Kahl ist ein Mann von 75 Jahren. Dieser Mann, der mit seiner wohlwollenden Äußerung über den Amnestieantrag für uns doch gezeigt hat, daß er das menschliche Gefühl nicht grundsätzlich unberücksichtigt läßt, und der in seinem Alter doch wohl ungern persönlich wehe tut, wird vielleicht einem ganz persönlichen Appell zugänglich sein, wenn ihm gesagt wird, wie unendlich glückliche Hoffnungen grade er erst erweckt hat, und wie bitterlich die Enttäuschung ist, die nach dieser von ihm erregten Illusion entstehn mußte. Das habe ich ihm geschrieben. Denn ich überlegte mir auch, daß darin kein größerer Opportunismus liegt als wenn ich mich an einen Kommunisten, geschweige gar, wie ich es doch jüngst erst in der gleichen Sache mit Sauber tat, an einen Sozialdemokraten wende. Ich las den Brief erst Sauber vor, bevor ich ihn absandte. Der nahm den sehr verständigen Standpunkt ein: ein solcher Schritt könne nur vom eignen Gewissen verantwortet werden; wenn er gelinge, so sei das so zu begrüßen, daß mir ein Vorwurf bestimmt nicht erwachsen werde. Sandtner Gustl erklärte ungefähr dasselbe und meinte nur, es habe garkeinen Zweck. Aber ich erklärte, ich gehöre nicht zu den Lossows, die erst 51 % Wahrscheinlichkeit haben müssen, bevor sie etwas anfassen, und schickte das Schreiben, das am Schluß auch auf das Gesetz zur Wiederaufnahme der Volksgerichtsprozesse hinwies und auf uns von Standgerichten Verurteilten aufmerksam machte – als Eilbrief ab. Nachher las ich das Konzept auch Olschewski vor, natürlich in der Überzeugung, daß der von vornherein gegen solche Anbiederung mit dem Vertreter der Bourgeoisie sein werde. Natürlich kams auch so, und ich hörte, das hätte er niemals gemacht, aber ich sei ja „niemandem verantwortlich“ (!) und so sei es meine Sache. Ich erinnerte ihn daran, daß er doch selbst schon Eingaben an den Reichstag im ganzen oder an andere Abgeordnete mit unterschrieben habe. Er fand natürlich, daß es ganz was anderes sei, ob man an Löbe oder an Kahl schreibe, und ich replizierte schließlich, als er von „Grundsätzen“ sprach: „Erlaube mal. Deine Parteigenossen suchen jeden Tag im Parlament die Bourgeoisvertreter zu diesem oder jenem Entschluß zu überreden. Die halten das also als Kommunisten für grundsätzlich erlaubt. Ich bin grade entgegengesetzter Meinung in der Sache, und ich finde das Reden im Reichstag grundsatzlos und unvereinbar mit dem Klassenkampf. Aber von hier drinnen kann ich keinen Klassenkampf zu meiner Freilassung führen, und da ich sehe daß ihn die Proletarier nicht von sich aus führen, muß ich mir helfen wie ich kann.“ – Natürlich ist meine Hoffnung, daß Kahl nun wirklich etwas für uns tun wird, etwa durch Abkommandierungen eine Majorität für uns herbeiführt (daß das im Parlament geht und oft genug geschieht, ist ja kein Geheimnis), außerordentlich gering. Aber das 1 % gegen 99, daß er es tun wird, ist doch vielleicht da, und wenn dieser Brief bewirkt, daß ich zu meiner Zenzl komme, daß meine Genossen von hier alle frei werden, und daß vor allem die 2 Dutzend Genossen, die noch in Straubing sitzen, das Licht wieder sehn, dann will ich alle Vorhaltungen lachend anhören und mich mein Leben lang über die Selbstüberwindung freuen, die mich dieser Schrieb gekostet hat. Wann das Plenum die endgiltige Entscheidung trifft, ist aus den Zeitungen noch nicht zu entnehmen, vermutlich wohl in der morgen beginnenden Woche. Da werden denn auch die Beschlüsse des Rechtsausschusses Gesetz werden – oder auch verworfen werden, die die Volksgerichtsurteile betreffen (Lex Fechenbach schreiben die bayerischen Eigenartikler) und die Aufhebung des besonderen bayerischen Ausnahmezustands verlangen. Das geht den Münchner Partikularisten natürlich noch mehr gegen den Strich und schon wird ein neuer fürchterlicher Konflikt angekündigt. Aber mir scheint, vor solchem Konflikt hat heute Bayern selbst mehr Angst als das Reich – trotz der Forschheit des Herrn Held in seiner Ministerpräsidentschafts-Programmrede, er werde die bayerischen Hoheitsrechte zu wahren wissen und auch einem Konflikt nicht aus dem Wege gehn. Aber schon, daß man im Rechtsausschuß, wo doch Herrn v. Pregers Tränen schon hätten rühren können – über diese bayerischen Hoheits-Belange einfach hinweggegangen, ja, in der Volksgerichtssache von einem besonderen Ausschuß darin bestärkt worden ist, daß Bayern bei solchen Entscheidungen nicht mehr berücksichtigt zu werden braucht, zeigt, daß es allmählich als quantité négligeable behandelt wird. Hier wirkt sich aber nicht nur die jämmerliche Niederlage der Volksgerichtsherrlichkeit im Hitlerprozeß aus, sondern es spielt wohl mit hinein der in den industriellen Kreisen des Reichs gegen die bayerischen Ansprüche entstandene Groll, besonders wegen der Haltung der Bayern in der Eisenbahnfrage. Schon hat ein Vertreter Englands in London erklärt, falls Bayern mit seinen Eisenbahnforderungen gegenüber dem Reich durchdringe, werde England für die Beibehaltung der Eisenbahnregie im besetzten Gebiet stimmen. Man will also Herrn Held kirre kriegen, der sich noch dazu kürzlich die Verwegenheit geleistet hat – (über die seinerzeit schon Lerchenfeld gestolpert ist), es gebe 2 Stände in Bayern, die vor allen andern die Politik des Landes zu berücksichtigen habe, die Landwirtschaft und der gewerbliche und handwerkliche Mittelstand: also ein offener Affront gegen die Industrie. Diese äußeren Schwierigkeiten, die jetzt dem Großkapital erwachsen, sind aber derartig, daß man für Inlands-Stänkereien zur Zeit sehr wenig Neigung hat. In London gehn die Dinge keineswegs so glatt, wie sich Optimisten eingebildet hatten. Zwischen den Herren Herriot und MacDonald werden ja Einigungsformeln immer wieder gefunden, selbst über die „Sanktions“-Politik bei Deutschlands „Verfehlungen“ war man endlich einigermaßen im Klaren. Da kamen aber die englischen und amerikanischen Bankiers, von denen die 800 Millionen Goldmark für Deutschland hergegeben werden sollten, und die haben bisher zu allen schönen Formeln quod non gesagt, und so werden täglich neue Kommissionen gebildet, zur Prüfung dieser und zur Redigierung jener Sache, und wenn nicht alle Zeichen trügen, so wird aus der großen Londoner Konferenz dasselbe herausschauen wie aus allen früheren derartigen Geschichten: eine „Zwischenlösung“ und die Überweisung aller Fragen an eine neue Konferenz, der es nicht besser gehn wird. Deutschland aber soll nun bis zum 14. August die fertigen Gesetze vorlegen zur Durchführung der Dawespläne. Dabei weiß kein Mensch bis jetzt, ob man in London, wohin die Einladung der deutschen Delegation täglich angekündigt wird, bloß ein fertiges Diktat unterschreiben soll oder noch selber mitreden darf. Die Deutschnationalen nutzen die Zeit nach Kräften aus, um sich für die Übernahme der Regierung bereit zu machen. Den Stresemännern wird Angst und Bange vor der Verantwortung, und es ist garnicht unmöglich, daß etwa Rudi Breitscheid Außenminister wird, um auf Versailles, Spa etc nun London folgen zu lassen und einen neuen Dolchstoß schleifen zu können. Der vollkommene innere Zerfall der Völkischen Bewegung könnte den beteiligten Patrioten den Wunsch nahelegen, die Sozi noch einmal ans Ruder zu lassen, damit man sie dann erst recht als Verräter bespucken kann. Was in der Londoner Sache herauskommt, ist fürs Proletariat ziemlich schnuppe. Die Erwerbslosigkeit nimmt Dimensionen von unheimlichem Ausmaß an. Was noch zur Rettung des Staats und der „Ordnung“ geschieht ist gänzlich belanglos. Das Ende dieser Krise wird sein absolute Verstumpfung des gesamten Volks und Hinabsinken auf ein Kultur- und Existenzniveau der primitivsten Kolonialvölker – oder Revolution!

 

Niederschönenfeld, Sonntag, d. 27. Juli 1924

Im Hause ist größte Sensation. Heut vormittag wurden plötzlich Klingelhöfer und Kain hinuntergerufen und kamen nicht wieder. Ihre Buden sind schon ausgeräumt: Entlassung auf Strafunterbrechung. Klingelhöfer rettet von 5½ Jahren 4½ Monate, Kain von 6 Jahren 11½ Monate. Ein großes Orakeln ist im Gange, denn soviel wir wissen, haben beide kein Gesuch laufen gehabt, und ihr Intimus Karpf, der nun von der „Kruppe“ (die Gruppe der 3 K.) allein übrig bleibt, bestätigt das. Die meisten, wozu diesmal auch ich gehöre, glauben, daß im Reichstagsrechtsausschuß die Ablehnung unsrer Amnestie von Preger durch bestimmte Zusagen der Art erreicht wurde, daß Bayern von sich aus binnen kürzester Zeit die Räterepublikaner – mindestens die von Niederschönenfeld – in Freiheit setzen werde. Klingelhöfer und Kain sind, nach Tollers Entlassung die nächsten, die von denen herauskommen müßten, die ununterbrochen von 1919 ab sitzen (die vor 2 Jahren schon amnestierten Sandtner und Zäuner gehören ja nicht zu den „Rätebestien“, und von denen wird von ihren Genossen niemand geredet haben. Der nächste wäre, wenn unsre Kalkulation richtig ist, Olschewski mit 7 Jahren (Gott gebe, daß man – wenn schon die Haft für uns weitergehn soll, ihn möglichst bald freigibt. Von November ab wäre er nebst Sauber, Karpf und mir allein übrig, und der wäre in unserm Quartett eine Belastung, die der Hausfriede kaum ertragen würde). Dann wäre Sauber mit 12, danach Karpf mit 12½ (6 Monate Nachfassen wegen der Bestechungsgeschichte) und schließlich ich mit 15 Jahren an der Reihe. Außerdem ist von Räterepublikanern nur noch Enzinger hier, der Ende November seine Zeit des 17monatigen Nachexerzierens hinter sich hat. Sandtner geht im Oktober, Zäuner, der andre Mitteldeutsche, ebenso wie der vom Kappputsch her verurteilte Hackl, endlich auch die beiden Eisenbahner vom letzten Herbst, Millmann und Leykam, allesamt Anfang November. Wir sind also jetzt bloß noch 10 Mann, doch glaube ich, muß die 4jährige Zuchthausstrafe Josef Fürbachers bald herum sein, außerdem soll noch ein gewisser Erhard im Gefängnis sitzen, der dadurch etliche Monate Bewährungsfrist verschüttet hätte. Wenn also im Reichstagsplenum, wie man leider erwarten muß, der negative Ausschußbeschluß bestätigt wird, so wäre – falls die Annahme stimmt, daß Bayern Zusagen bindender Art gegeben hat, trotzdem wohl bis zum Herbst unser aller Glück zu erhoffen. Getrübt wird freilich dieses Glück durch den Gedanken, daß die Entlassung auf Strafunterbrechung uns einen Strick um den Hals legen würde, der uns viel Atemnot bereiten kann: ein unbedachtes Wort, und ich kann für 10 Jahre nach Niederschönenfeld zurückgeholt werden! Und außerdem: wird man auch die Straubinger Genossen – es sind dort noch über 20 Mann, darunter Prachtkerle wie Strobl, die nicht wie Wadler das Opfer der Gesinnungsverleugnung bringen würden – frei geben? Besser wäre es in jeder Hinsicht, wenn der Reichstag in dieser Woche kurzerhand doch noch die Amnestie für alle Räterevolutionäre Bayerns proklamierte. Die bevorstehenden Verhandlungen über die Beschlüsse des Rechtsausschusses werden wohl jetzt die Frage beantworten, ob nach dem Hitlerputsch, dem Hitlerprozeß, dem Krach zwischen Bayerischer Volkspartei und Reichszentrum etc nun wirklich das Reich stärker ist als Bayern oder bei der ersten Probe schleunigst wieder kuscht. Da läßt sich schwer prophezeien. – Was die Entlassung der beiden Kruppengrößen betrifft, so will ich mich der Nekrologe enthalten: Klingelhöfer und ich standen nicht in feindseliger aber sicher auch nicht in besonders freundschaftlicher Beziehung zu einander. Zwei so heterogene Naturen können über einander kein objektives Urteil fällen. Für Kain hatte ich immer eine gewisse persönliche Schwäche, hatte aber so oft Gelegenheit, mit der objektiven Beobachtung andre Resultate zu erkennen als ich wünschte, daß ich sein Charakterbild in der Geschichte meines Lebens getrost in der Schwebe lassen will. Karpf ist eben bei ihnen unten, er scheint mit ihnen Abschiedskaffee trinken zu dürfen, eine Vergünstigung, die zum ersten Mal in solchem Fall gewährt wird, und die allgemein als Zeichen dafür betrachtet wird, daß eine Änderung für alle bevorsteht. Mein Gott, daß es wirklich so wäre! Mein krankes Herz hat vielleicht nicht mehr viel Zeit, und ich fühle, wie furchtbar Zenzl der Schlag getroffen hat, den der Reichstagsausschuß gegen uns geführt hat. Ich habe maßloses Heimweh nach Zenzl.

 

Niederschönenfeld, Sonntag, d. 28. Juli 1924

Zenzls 40. Geburtstag. Ihr fast abergläubisch gehegter Wunsch, wir würden den Tag zusammen begehn können, bleibt unerfüllt, wenn auch viele Anzeichen dafür sprechen, daß unser Verlangen zu einander nicht mehr sehr lange vergeblich sein wird. Mein ganzes Herz ist voll von Liebe für diese Frau, der ich nie vergelten kann, was sie in diesen schrecklichen Jahren in Treue getragen und in Größe geleistet hat. – Ich bin wie alle Genossen jetzt so egozentrisch nur von der Frage bewegt: wie lange noch? daß sogar das politische Geschehn, soweit es nicht irgendwo an unser eignes Schicksal grenzt, an Beachtung einbüßt, obwohl genügend Dinge in der Welt vorgehn, die der Analyse in Hinblick auf die künftige Weltgestaltung wert wären. Ich will von den revolutionären Vorgängen in Bulgarien und Brasilien ganz absehn, da sich darüber in der Presse absolut kein Überblick gewinnen läßt; die Berichte sind spärlich und gehn nie auf die tieferen Zusammenhänge ein, und in der Darstellung des Episodischen widersprechen die Behauptungen der Regierung denen der Aufständischen stets in allen Einzelheiten und im Gesamten. Die Schacherei in London läßt nur soviel klar erkennen, daß das anglo-amerikanische Finanzkapital die Entschlüsse sämtlicher europäischen Regierungen souverän diktiert. Die Salbadereien über die Dinge im deutschen Reichstag dazu charakterisieren nur vollkommene Niveaulosigkeit aller bei uns mit der Legislative betrauten Volksvertreter. Die Deutschnationalen vollführen einen Eiertanz groteskester Art, indem sie einerseits annehmen wollen, was „tragbar“ ist (das Wort erträglich ist heutzutage für einen deutschen Politiker Beweis für Bildungsmangel), und sich andrerseits einbilden, sie könnten in dem, was es nicht ist, Bedingungen stellen. Die Völkischen haben wenigstens soviel Mut, einfach Nein zu sagen – aber auch dieses Nein kommt, ebenso wie das ihrer Antipoden, der Kommunisten (Frage: sind’s denn Antipoden?) keineswegs aus revolutionärer Einsicht und entschlossenem Kampfwillen, sondern aus den Erwägungen der Wahlpropaganda. Die Sozi benutzen die Gelegenheit, sich rechts anzubiedern, indem Scheidemann (der ebenso wie Leinert in Hannover jetzt in Cassel vom Postament des Oberbürgermeisterpostens heruntersteigen mußte – Mohren, die ihre Schuldigkeit getan haben) eine ähnliche Rede zur „Kriegsschuldlüge“ hielt wie vor ihm der Deutschnationale. – Angeblich werden Stresemann und Marx in diesen Tagen nach London fahren, um zu „verhandeln“, d. h. um unter Wahrung gewisser Formen jede Bedingung anzunehmen, die die Londoner und New Yorker Bankiers ihnen vorlegen werden. Denn die Herren Young und Konsorten sind gänzlich frei von Sentimentalitäten und wollen Deutschlands „guten Willen“ sehn, ehe sie 40 Millionen Pfund herausrücken. – Der Reichstag nahm bei derselben Gelegenheit (3. Beratung des sogen. Notetats) die Anträge des Rechtsausschusses an, wonach die Verbote politischer Parteien aufgehoben werden und speziell für Bayern die Reichsregierung beauftragt wird, „darauf hinzuwirken“, daß die Kahrschen Verordnungen, soweit sie noch gelten, beseitigt werden. Dann kam auch gleich die „Lex Fechenbach“ dran, deren Annahme Kahl empfahl. Es war mit bayerischer Volkspartei und Deutschnationalen vereinbart worden, daß sogleich die 2. und die 3. Lesung hintereinander vorgenommen werden sollten, was nur geschehn kann, wenn niemand Einspruch erhebt. Man verpflichtete sich also, auf diesen Einspruch zu verzichten. Und als dann die 2. Lesung herum war und die 3te folgen sollte, erhoben zwar die beiden opponierenden Parteien keinen Einspruch, sondern die Fraktion des Herrn Bredt, unter dem sich die Splittergrüppchen der Wirtschaftsparteien mitsamt bayerischem Bauernbund vereinigt haben. So wurde also die Beschlußfassung wieder verschoben, und zwar, da der Reichstag danach vorläufig auseinanderging, für mindestens 14 Tage. Solange werden wir wohl auch auf die endgiltige Erledigung der Amnestievorlagen warten müssen, – was vielleicht nicht ungünstig ist. Jeder Tag kann Veränderungen in der Gesamtsituation bringen, und da der Rechtsausschuß gegen uns entschieden hat, wird ja keine Veränderung zum Schlimmen mehr zu erwarten stehn. Kain und Klingelhöfer sind übrigens nicht auf Strafunterbrechung, sondern auf Bewährungsfrist (dieser bis 1. August 1926, jener bis 1. August 1927) freigelassen worden. Daß ihnen bald andre folgen werden, dafür sprechen viele Anzeichen. Möge die Qual bald für uns alle ihr Ende finden. Das ist mein Wunsch für Zenzls Geburtstag.

 

Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 31. Juli 1924

Ich benutze die Zeit, um alle auch nur von ferne Aussicht verheißenden Wege zu beschreiten, die Abstimmung im Reichstag zu unsern Gunsten zu beeinflussen. Gestern habe ich in einem Brief an Pestalozza eine gedrängte Darstellung unsres Standpunkts gegeben und ihn gebeten, im Anschluß an meinen Brief an Kahl seinerseits mit Fehrenbach Fühlung zu nehmen. Pestalozza ist noch einer der wirklich frommen Christen, und ich denke mir, er wird dem klerikalen Juristen gegenüber schon die richtigen Worte finden. Nun will ich heute noch die Liga für Menschenrechte, von der ich eben einen sehr freundlichen Brief erhielt, in Bewegung setzen, daß sie ebenfalls persönlich die maßgebenden Politiker der Regierungsparteien, also Fehrenbach vom Zentrum und Brodauf von den Demokraten zu gewinnen suchen soll. Hilfts nichts, so schadet es sicherlich erst recht nichts, und die minimale Mehrheit, mit der im Rechtsausschuß die Ablehnung erfolgte, läßt gewisse Hoffnungen nicht ganz vergeblich scheinen. Der Gedanke, vom November ab zu 4 Mann allein zu sein – noch dazu Olschewski dazwischen, mit dem ich nur unter größter Antipathie-Überwindung, Karpf zweifellos überhaupt nicht näher verkehren kann – während zwischen Karpf, Sauber und mir eine Basis freundschaftlichen oder doch gutnachbarlichen Auskommens leicht zu erzielen wäre – dieser Gedanke ist recht widerwärtig – besonders in der Erinnerung an Ansbach, zweite Folge. Die politische Situation trägt alle Zeichen einer Übergangszeit. In London will man die Wege finden, Europa zu „befrieden“, indem man Amerika das Hauptgeschäft machen läßt. Das Geschwafel darüber in der Presse ekelt einen nur; sie wundern sich täglich von neuem, daß die Engländer trotz der „Arbeiterregierung“ ganz ohne Sentimentalität ausrechnen, was dem Ententekapital am besten nützt und schon ist Herr Herriot bei uns populärer als Herr MacDonald; wie lange wird’s dauern, und man wird wieder plärren wie in der großen Zeit: Gott strafe England! – Was auch in London herauskommen mag, die deutschen Arbeiter werden die Kosten tragen – und zwar entsetzlich hohe Kosten. Wir werden im Herbst eine Erwerbslosenziffer haben, wie sie die Welt nicht erlebt hat, und das Proletariat hat halt im Herbst 1923 die Zeit verschlafen, wie es stets alle Termine verschlafen hat, weil es auf die Weckuhr seiner Partei- und Gewerkschaftsbürokratie vertraute. Daß es hierin besser werden wird, ist vorläufig nicht zu erkennen. Im Gegenteil: der „Komintern“-Kongreß in Moskau hat jetzt über die Gewerkschaftsfrage disputiert und dabei Beschlüsse gefaßt, die eine vollkommene Kapitulation vor Amsterdam bedeuten. Losowskis „Rote“ Gewerkschaften sind pleite, weil sie bloß ein Abklatsch der reformistischen Legien-Gompert-Gewerkschaften sind und das revolutionäre Phrasengeklingel, mit dem sie Energie markieren, diese Energie nicht hervorbringen kann. Die Kommunisten, sagt man in Moskau, sollen da wirken, wo die Massen der Arbeiterschaft stehn, – die Konsequenz davon wäre doch wohl, daß sie auch politisch zu der Partei gehn, die zahlenmäßig die meisten Proletarier hat. Levi hat ja diese Konsequenz längst gezogen. Sinowjew aber, der noch vor wenigen Wochen Radek gegenüber die deutschen KP-Leute schwer beschimpfte, der seinerzeit das sächsische Experiment mit lautem Hohn übergoß, bringt schon wieder die Parole „Arbeiterregierung“ für die Deutschen heraus. Sie sollen nicht bloß mit den Sozialdemokraten zusammen, nein mit den Christlichen Gewerkschaften und allen Arbeiterorganisationen zusammen „die Macht“ anstreben. Sie sind Marxisten und bleiben es, mögen sie sich zeitweise auch Bolschewisten, Leninisten oder sonstwie nennen. Wenn revolutionäre Aktionen kommen, wie 1917 in Rußland, dann sind ganz große Menschen wie Lenin auch mal fähig, ihren Marxismus zu verleugnen, – bis sie sich seiner wieder erinnern, mit ihm die Revolution umbringen, die Revolutionäre massakrieren und in Büchern und Broschüren beweisen, daß die Revolution marxistisch war und die Richtigkeit der Lehre bewiesen habe. So haben es die Meister Marx und Engels ja 1871 schon selbst gemacht, obwohl die Commune ein einziges Bekenntnis zu Bakunin und teilweise zu Blanqui und Proudhon war. – Als Staatspolitiker freilich sind die Russen der europäischen Diplomatie völlig gewachsen, der deutschen sogar beträchtlich überlegen. Jetzt ist der Konflikt wegen des polizeilichen Übergriffs in der Berliner sowjetischen Handelsdelegation durch ein Verständigungsprotokoll beigelegt, wobei die Russen einen großen Sieg über Stresemann und die Seinen errungen haben. Aber ist das für das Proletariat wichtig? Mir scheint, sehr wenig, so stolz immer unsre Genossen hier den Sieg feiern. Symptomatisch für den gesamten Zustand, in dem Deutschland sich befindet, ist mehr als alles, was sonst im öffentlichen Getriebe Lärm macht, der furchtbare Fall Haarmann in Hannover. Dieser grauenvolle homosexuelle Lustmörder, der vielen Dutzenden junger Menschen im sexuellen Rausch die Kehle durchbiß, dann ihr Fleisch verkaufte, mit ihrer Kleidung Geschäfte machte, – und dies alles lange Jahre hindurch ohne Behelligung treiben konnte, weil er als Noskescher Polizeispitzel gegen revolutionäre Arbeiter immun war, dieser entsetzliche Mann mit seinen Helfern, die scheinbar in den „obersten“ Gesellschaftskreisen Komplizen haben, dieser Haarmann ist der repräsentative Typus des Nachkriegsdeutschlands „völkischer“ Prägung. In solcher Verwahrlosung der Sitten – und die täglichen Rohheitsexzesse der Völkischen, die übrigens gleichzeitig unter einander im wildesten Kampf stehn (die Krachs in Nürnberg und die Personenstreitigkeiten in Bayern überhaupt: Streicher, Esser etc gegen die parlamentarischen Konzessionsbuttmänner) sind ja nur Nuancen der gleichen Krankheit – drückt sich die Rache der ungeborenen Revolution gegen ihre Verhinderer aus. – Die Menschen, die in all der Wirrnis ihren Charakter gerettet haben, sterben nach einander weg. Jetzt ist wieder ein alter Bekannter von mir hingegangen: der Musiker Ferruccio Busoni. Wir waren vor 20 Jahren, zur Zeit des Cabarets zum siebenten Himmel und in Gesellschaft der Frau Hertha Kutscha oft zusammen. Erst jetzt, aus den begeisterten Würdigungen seines Werks und seiner Persönlichkeit in den Nekrologen erfahre ich, daß Busoni zu den ganz großen Künstlern unsrer Gegenwart gerechnet wurde. Mir wird die Erinnerung an seine liebenswürdig-gesellige Persönlichkeit lebendig bleiben.

 

Niederschönenfeld, Freitag, d. 1. August 1924

10 Jahre „große Zeit“! Solange ich noch als eines der letzten Opfer der unmittelbaren Kriegsfolgen im bayerischen Menschenkäfig zubringen muß, ist diese reizende Epoche für mich auch im Persönlichen nicht überstanden. Am 3. August werden die Nie-wieder-Krieger ihre Kriegsverliererfarben schwarzrotgelb schwingen, man wird die Toten des Kriegs bewinseln, die ja das Opfer ihres Lebens nicht umsonst brachten. Ebert der Taktvolle regiert Deutschland, und dies Resultat hat schon 12 Millionen Menschenleben gelohnt. Natürlich wird man auch die „Kriegsschuldlüge“ breitwälzen: als ob’s viel drauf ankäme! Die Welt außerhalb Deutschland interessiert sich für das weibische Geplärr der Unterlegenen ja doch nur deshalb, weil es unverkennbar zeigt, wie dies „republikanische“ Land sich mit den monarchistischen Regierungshanswursten auch jetzt noch völlig identifiziert. Wie stark das der Fall ist, kommt sogar bei den Vorbereitungen zum 5jährigen Jubiläum der Weimarer Verfassungssetzung zum Vorschein. Ein katholischer Bischof, der seinen Klerikern aufgegeben hat, den Tag von den Kanzeln herunter zu preisen, wird wie eine Fabelgestalt bestaunt, so „mutig“ ist es, sich zur bestehenden Verfassung zu bekennen. In Weimar wird natürlich großes Gedenktheater sein, und nur Bayern tanzt wieder außer der Reihe. Herr Stützel, Schweyers Nachfolger, hat jede Feier unter freiem Himmel verboten; man halte sich in Bayern an die Reichsverfassung, jedoch freue man sich nicht an ihr. Überhaupt ist Bayern wieder auf dem besten Wege, mit den Unbequemlichkeiten gegenüber der Berliner Regierung ein neues, aber nicht sehr verändertes System zu beobachten. Kürzlich hat der Reichstag zwar abgelehnt, den bayerischen Ausnahmezustand aufzuheben, aber beschlossen, daß die verbotenen Parteien überall wieder zugelassen werden müssen. Stützel erklärt dazu, man freue sich sehr, daß durch die Ablehnung des ersten Antrags ein Konflikt mit dem Reich vermieden sei; denn der zweite Beschluß werde sowieso in Bayern nicht ausgeführt werden, da der Reichstag dabei seine Kompetenzen überschritten habe. Er dürfe nur auf Grund des § 48 von Landesregierungen erlassene Verordnungen aufheben. Das Verbot der Kommunistischen Partei aber sei nicht in der Reglung durch Verordnung, sondern von Kahr durch Dekret aufgrund seiner Machtvollkommenheit ausgesprochen worden. Die Reichsregierung stehe auf demselben Standpunkt. Darüber wird Herr Jarres sich jawohl äußern, – zuzutrauen ist es ihm natürlich, aber fraglich immerhin, ob die Reichstagsmehrheit sich selbst von Bayern aus ihre Beschlußrechte kürzen läßt (nur fraglich; sicher ist das Charakterwahren bei denen nie). Wann der Reichstag wieder zusammentritt, ist noch nicht gewiß. Es ist ja für uns von besonderem Interesse, da er wohl als eine seiner ersten Aufgaben die Amnestieanträge definitiv zu erledigen haben wird. Ferner ist die 3. Lesung der „Lex Fechenbach“ zu leisten, und schon da wird sich herausstellen, ob es den Bayern inzwischen gelungen ist, das Juste milieu durch Konfliktsandrohung einzuschüchtern, oder ob man fest zu bleiben den Mut hat. Und in diesem Falle wäre ja auch noch abzuwarten, ob die Herren Held, Stützel und Gürtner mit dem neuen Gesetz nicht ebenso verfahren werden wie mit den Amnestiegesetzen von 1920 und 1922 und jetzt mit dem Auftrag, die KPD wieder zuzulassen. – Radbruch hat mir auf meine Bitte, sich dafür zu interessieren, daß – falls die Amnestie endgiltig fällt – mit der Bestimmung, daß die bayerischen Prozesswiederaufnahmen bei Volksgerichtsurteilen möglich werden, ein entsprechender Erlaß auch für Standgerichtsurteile verbunden wird – sehr freundschaftlich geantwortet, sich auch bereit erklärt, falls ich Wert darauf lege, meine Verteidigung zu führen. Nur warnt er selber davor wegen seines Rufs in Bayern. Ich glaube doch aber, daß ein wieder aufgenommenes Verfahren nicht in München sondern in Leipzig durchgeführt würde. Jedenfalls will ich ihm gleich noch einmal schreiben. – Die bayerischen Zeitungen berichten über die letzte Sitzung des Verfassungsausschusses im Landtag. Da sei auch die Beschwerde der Festungsgefangenen wegen Korrespondenzbehinderung mit Reichstagsabgeordneten und -präsidium zur Sprache gekommen. Das Justizministerium ließ erklären, daß eine Anordnung nötig geworden sei, derarte Briefe aus Niederschönenfeld über das Justizministerium in München zu leiten, weil Mühsam verschiedentlich und einmal mit Erfolg („Lenins Tod“) versucht habe, aufreizende Gedichte bolschewistischen Inhalts über den Reichstag der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Jedoch sei jetzt trotzdem – also offensichtlich als Wirkung der Eingabe von Sauber und mir – die Anweisung zurückgezogen worden. Dieser Weg ist also wieder frei, und so hat immerhin eine Beschwerde ans Parlament auch einmal einen sichtbaren Erfolg gehabt. Umso besser.

 

Niederschönenfeld, Sonnabend, d. 2. August 1924

Lachen und Fluchen – in Wirklichkeit ungeheure Empörung und Erbitterung herrscht im Hause, obwohl ein Erstaunen über die neueste Infamie der Sozialdemokraten gegen uns nach allem Erlebten ja ziemlich verfehlt wäre. Trotzdem: was sie sich jetzt geleistet haben, ist doch wohl das ärgste in all diesen Jahren, – zumal es nach soviel Jahren kommt. Im Landtagsplenum standen die Amnestieanträge der Völkischen und Kommunisten zur Beratung. Für die Sozialdemokraten begründete Herr Staatsanwalt Dr. Högner die Ablehnung beider Anträge: die Hitlerianer freigeben hieße dem Mord wieder Tür und Tor öffnen, und was den kommunistischen Antrag betreffe, so werden die Sozialdemokraten niemals zugeben, daß die Emissäre Moskaus, die die Arbeiter nur von einem Putsch zum andern hetzen, begnadigt würden! – Ihr eigner Antrag wurde zwar auch abgelehnt, hätte aber ebensogut angenommen werden können, ohne daß das Geringste geändert wäre. Er bezweckt die Möglichkeit von Nachprüfungen (nämlich durch die Herren Gürtner und Kühlewein oder das Oberstlandesgericht mit Müller-Meiningen und den Nachfolgern der Herren Pöhner und von der Pfordten) und Einzelbegnadigungen für uns Räterepublikaner, wie sie ja an und für sich in bewährter Weise betrieben werden, indem man etwa Klingelhöfer 4½ Monate von 5½ Jahren nachläßt. Dr. Gürtner hat natürlich wieder eine umfangreiche Gnadenstatistik aufgefahren, bei der besonders auffällt, daß er darin behauptet, in 7 Fällen seien Bewährungsfristen wegen „gemeiner Vergehn“ wieder gestrichen worden. Zunächst: wo ist das gemeine Vergehen von Popp und Stahl? Dann: in meiner Statistik, die bis zum 1. August 1921 zurück die Namen und Daten der Mitgefangenen notiert hat, stehn nicht 7 Widerrufungen vermerkt, sondern 22, von denen dann 10 Sünder immerhin noch einmal auf Bewährung herauskamen. Es bleiben also noch 12 Mann übrig, die keineswegs alle wegen gemeiner Vergehn nachexerzieren mußten: einzelne, wie Brockmann hatten im Gegenteil rein politische Delikte nachzubüßen; ich überlege, ob ich nicht dem Verfassungsausschuß des Landtags meine Statistik zur Kenntnis einreichen soll. Schlaffer hat sich jetzt ebenfalls zu diesen Dingen im Landtag vernehmen lassen. Hoffentlich kriegen wir noch das amtliche Stenogramm; nach dem Bericht des Auerlichts hat er die Bevorzugung der Braven vor beinahe 3½ Jahren, als er selber also noch garnicht hier war, lang und breit behandelt und Daudistels berühmten Tripper propagandistisch laufen lassen, also statt Regierung und Verwaltung, besonders in der letzten Zeit und prinzipiell vorzunehmen, bloß wieder den alten Stunk zwischen den Festungsgefangenen selber, der Gottseidank längst ausgepestet hat, wieder aufdünsten lassen. Man staunt oft über den vollkommenen Mangel an politischem Instinkt der Leute, die sich einbilden, das nach marxistischen Rezepten um jede Aktivität geredete Proletariat müsse von ihnen „vertreten“ werden, um auf diese Weise zur Revolution „reif“ zu werden. Es ist ja garnicht wahr, daß wie Schlaffer offenbar behauptet, damals die Böcke von den Schafen nach ihrer Parteizugehörigkeit ins I. und II. Stockwerk geschieden wurden, und daß grade bloß „die Kommunisten“ (zu denen ich von Schlaffer ja beileibe nicht gezählt werde) von Vollmann monatelang mit Sonderschikanen gehunzt wurden. Unter den Braven befanden sich sehr rege Parteikommunisten wie Blößl und Marschall, die von den ganz Charaktervollen eben wegen ihres vorschriftsmäßigen Markenklebens, das ihnen ja noch dazu erlassen war – also wegen des Bekenntnisses zum vorschriftsmäßigen Markenkleben – nach der Beilegung des Konflikts in vollen Gnaden wieder aufgenommen wurden. Es gäbe, scheint mir, grade genug andre und wichtigere Dinge dem Landtag zu erzählen als diesen abgestandenen Quark. – Aber was haben denn die kommunistischen Zeitungen gebracht, als jetzt Toller wieder auf der Bildfläche erschien? In dem Augenblick, wo er mit großer Hingabe und mit sichtbarem Eindruck unsre Interessen draußen vertrat, brachte die Rote Fahne einen Begrüßungsartikel, in dem sein Verhalten während des Münchner April-Débacles und besonders seine heftige opportunistische Opposition gegen Leviné unter tendenziösen Übertreibungen und mindestens völlig einseitig angegriffen wurde. Es stellte sich dann heraus, daß der Artikel von Frau Leviné geschrieben ist, und kein gerechter Mensch wird es der Frau verargen, daß sie, die in schöner Treue das Andenken ihres Gatten verteidigt, die Schuld an seiner Ermordung weniger der Reaktion der Müller-Meiningenschen Justizinfamie als seinen politischen Widersachern unter den Arbeitern selbst und ihren Richtungen beimißt. Aber der Redakteur der Roten Fahne hätte wissen müssen, daß er in diesem Augenblick mit der Veröffentlichung des Artikels den politischen Gefangenen schadet und unsern Feinden Material gibt, um gegen die Amnestieforderungen Stimmung machen zu können. – Ich beabsichtige, dem langen Brief, in dem ich gestern Radbruch bat, mein Rechtsbeistand zu werden für den Fall, daß die Möglichkeit einer Wiederaufnahme auch der von Standgerichten verübten Prozesse beschlossen wird, den Zeitungsausschnitt folgen zu lassen, aus dem er erkennen kann, wessen wir uns zu versehn haben, wenn das Reich uns nicht amnestiert und wir dem vom Haß der bayerischen Sozialdemokratie beratenen bayerischen Wohlwollen überlassen bleiben. Es bliebe wirklich nur und allein die Hoffnung auf Revolution, und Illusionen, daß die bald da ist, wären nach den Erfahrungen vom vorigen Jahr gefährlich. Eine Chance für derartige Wendungen liegt heute eher bei der Bauernschaft als bei den marxistisch eingetrockneten Arbeitern, – und blöderweise tun ja die Marxisten alles andre, als der verbitterten Kleinbauernschaft gerecht zu werden. Als die Bauernvertreter seinerzeit bei Erörterung der Steuernotverordnungen vom bayerischen Landtag die Stundung der Steuern für die Bauern forderten, stimmten mit den Sozialdemokraten auch die Kommunisten dagegen, statt mit allem Nachdruck jeder Existenzerleichterung für die Kleinbauern zuzustimmen, aber zugleich fürs Proletariat die gleichen Vergünstigungen zu verlangen. Aber es ist halt marxistisch, daß die Arbeiter in den Bauern ihre natürlichen Feinde zu sehn haben. Jetzt ist die Agrarkrise drohend vor der Tür. Schon hat sogar Schlittenbauer wiederholt das Gespenst der Bauernrevolution an die Wand gemalt. Das Großkapital, eng versippt mit dem Großgrundbesitz, beschwichtigt die erregten Bauern mit Versprechungen, wenn nur erst die Schutzzölle da sind. Natürlich werden diese Zölle nur die großen Latifundienbesitzer bereichern, den kleinen Gütlern aber garnichts einbringen. Wären die marxistischen Parteien von jeher als Freunde und Bundesgenossen der armen Landbevölkerung aufgetreten, dann müßte ihnen der Beweis, daß auch die Zölle nur der Ausbeutung des kleinen Bauern und seiner Expropriation durch den Großbesitzer dienen sollen, sehr leicht fallen. Nun haben aber die Reaktionäre leichtes Spiel, die Sozialdemokraten und Kommunisten völlig in Mißkredit bei den Bauern zu bringen, da sie ihnen nicht einmal die Rettung durch die Verteuerung von Brotgetreide und Gemüse gönnen wollen. – Ich verstehe zu wenig von den Agrarfragen, um zu wissen, wie weit die Nöte der Bauernschaft schon gestiegen sind und ob es noch wirksame Mittel gibt, sie durch Reformen abzuwenden. Aber ich glaube, daß dieses Jahr von allen rein ökonomischen Ursachen abgesehn, für die Landwirtschaft auch aus metereologischen Gründen äußerst kritisch ist. Wir hatten in der letzten Woche – also grade in den Hundstagen – ein gradezu unglaubliches Wetter: Kälte bis zu + 7°, Regen, Stürme – und augenblicklich, wo die Sonne wieder warm scheint, führen die Donau und alle ihre Nebenflüsse Hochwasser, das die eben gebundenen Garben massenhaft wegschwemmt, Riesengebiete ungeernteter Kartoffeln überschwemmt und furchtbaren Schaden anrichtet. Die allgemeine Stimmung bei den Bauern dieser Gegend soll sehr gereizt sein. Platzt aber einmal dieses sicherste Reservoir bayerisch-klerikal-konservativer „Staatsgesinnung“ – dann hilft kein Held und kein Kreß, kein Gürtner und kein Stützel und die Sozi mitsamt ihren kommunistischen Stiefbrüdern werden zusehn müssen, wie sich die Bauern über alle ihre angestrengten Schwachköpfe hinweg mit den Arbeitern zusammenfinden und ohne alle Theorie Geschichtspraxis vorführen werden.

 

Niederschönenfeld, Sonntag, d. 3. August 1924

Abschrift: „N’fld 3. Aug. 24. Lieber Radbruch! Zur Ergänzung meines Briefes vom 1. August übersende ich Dir einen Ausschnitt aus der „Berliner Volksztg“ (republik-demokratisch) (hierneben eingeklebt eine Zeitungsmeldung über die Ablehnung der Amnestieanträge im bayer Landtag mit Högners durch Fettdruck hervorgehobenen Satz: „die Sozialdemokraten würden es niemals zulassen, daß die russischen Emissäre, welche die Arbeiter von einem Putsch in den andern hetzten, begnadigt würden)“. Ein Stimmungsbild aus der Festung zu diesem Bericht, der in andern Blättern bestätigt wird, ist wohl nicht nötig, da Du Dir die ungeheure Erbitterung selbst ausmalen kannst, die die nach fast 5½ Jahren immer noch unveränderte Intransigenz der bayer. Sozialdemokraten gegen ihre Komplizen von 1919 neu aufgerührt hat. Auf Grund welcher Tatsachen uns Dr. Högner als „russische Emissäre“ bezeichnet, ist nicht bekannt. Daß wir dank der Politik der Mitbegründer der bayer. Räterepublik, der damaligen Minister Segitz und Schneppenhorst, seit Frühjahr 1919 keine Gelegenheit mehr hatten, „die Arbeiter von einem Putsch in den andern zu hetzen“, scheint Herrn Dr. Högner trotz seiner Spezialbeschäftigung mit unsrer Angelegenheit entgangen zu sein. Die Haltung der Sozialdemokraten im bayer. Landtag bietet uns keine Überraschung, mag aber Dir und allen, die uns unsre Anklagen gegen sie nie glauben wollten, zeigen, daß wir von dieser Seite „niemals“ – der parlamentarische Neuling Dr. Högner hat sich das Wort ja nun entwischen lassen – ein Ende unsrer Not zu erhoffen haben. Die eignen Anträge dieser unsrer Freunde die darauf abzielten, auf Antrag der Verurteilten eine „Nachprüfung“, – also nicht einmal ein Wiederaufnahmeverfahren der Fälle zu veranlassen und eine unverbindliche Anregung zur Fortsetzung des ohnehin üblichen Verfahrens der Einzelbegnadigungen enthielten, wurden übrigens ebenfalls abgelehnt. – Du erkennst, daß unsre Lage, wenn auch der Reichstag fortfährt, uns bei allen Amnestiebeschlüssen zu übergehn, vollständig hoffnungslos ist. Ich wiederhole deshalb die dringende Bitte an Dich als meinen bevollmächtigten Rechtsvertreter, solange das Reichstagsplenum noch nicht endgiltig über den Antrag der Reichstagsfraktion Deiner Partei entschieden hat, mit den Gründen der Vernunft und der Gerechtigkeit, auf die Du in Deinem Brief an mich hofftest, auf die zur Mehrheitsbildung maßgebenden und vielleicht noch schwankenden Gruppen eine Einwirkung zu versuchen. Herzliche Grüße Deines   Erich Mühsam.“

Ob dieser Brief, der nun weggehn soll, noch etwas andres erreichen wird, als die Beschämung und Verlegenheit des armen Radbruch, ist natürlich recht zweifelhaft. Er wird sich selber sagen, daß die Auerochsen den Bayern und Reaktionären im Reichstag eine außerordentlich sichere Stütze für ihr Widerstreben geliefert haben. Immerhin hoffe ich, daß R. den Brief seinen Genossen im Reichstag zur Kenntnis bringt, was doch vielleicht ein kleines Palastdonnerwetter in München zur Folge hätte. – Ich muß – da ich heute sonst keine Eintragungen politischer Art mehr machen will, dies Heft mit einer sehr traurigen Registratur abschließen. Ein Brief von C. G., in dem er über vielerlei persönliche kleine Dinge aus unserm alten Münchner Kreis berichtet, enthält u. a. die Mitteilung vom Tode des jungen Adi (Adalbert) André. Der arme Kerl ist in der Ungererstraße mit dem Motorrade verunglückt. Nach meiner Schätzung müßte er jetzt kaum 24 Jahre alt sein. Vor etwa 12 Jahren – es können auch schon 14 sein – war er das schönste Kind, das ich je gekannt habe, und mir mit öfters fast peinlicher Zärtlichkeit zugetan. Kam er mit seiner Mutter und seinem Stiefvater Douglas ins Café, sprang er auf mich zu, küßte mich und turnte an mir herum. Die arme Mutter, nun schon zweimal Witwe, verliert mit dem Jungen ihr Alles. Über den Krieg ward er ihr gerettet – und nun dies Unglück. Man könnte meinen, das Schicksal hätte von den Menschen gelernt, ungerecht und infam zu handeln.

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